Es muss wohl irgendwann im Winter 2012 gewesen sein. Mein Freund Patrick und ich saßen in Linz und waren ziemlich deprimiert. Drei Monate war es her, dass wir gemeinsam auf dem Jakobsweg unterwegs gewesen waren. Mein rechter Fuß hatte auf dieser Wanderung ordentlich gelitten und das Gehen fiel mir immer noch schwer, vom Wandern einmal ganz zu schweigen. "Die nächste Tour werden wir wohl mit dem Fahrrad machen müssen." seufzte ich und dachte missmutig an die vielen Monate des Arbeitens die nun vor uns lagen. "Ja eine lange Radtour lasse ich mir auch einreden." sagte Patrick und klappte seinen alten Laptop auf. So saßen wir gemeinsam vor der Kiste und studierten eine Karte des europäischen Festlandes. "Wenn dann müssen wir wohin wo noch nicht viele gewesen sind." murmelte Patrick und fuhr mit der Maus über den Bildschirm. "Was ist mit Island?" fragte ich schließlich und deutet mit meinem Finger auf die Insel, welche im Norden Europas, zwischen Atlantik und Polarmeer liegt.
Patrick war sofort begeistert. Ein paar Wochen später begannen wir mit der groben Tourenplanung. Natürlich wollten wir wieder von daheim losfahren, das war uns klar. Nach einiger Zeit des Recherchierens fanden wir eine Route von Linz bis Hirtshals im Norden von Dänemark. Von dort gibt es eine Fähre, mit der wir in drei Tagen nach Island gelangen konnten. Bei einem Bier in unserer Stammkneipe am Hauptplatz in Linz, war die Tour dann beschlossene Sache. Trotzdem sollten noch fast drei Jahre bis zur Umsetzung der Idee vergehen. In den nächsten beiden Jahren bereiste ich im Paddelboot halb Europa und machte eine kleine Radtour im Osten Österreichs. Ende der Saison 2014 war ich gesundheitlich ziemlich angeschlagen, außerdem arbeitslos und so gut wie pleite. Für das kommende Jahr hatte ich keine Pläne, außer mir eine neue Arbeit zu suchen und weitgehend ein normales Leben zu führen. Ausgerechnet da eröffnete mir Patrick, dass es nun ernst werden würde. Nächstes Jahr im Mai sollte es Richtung Island losgehen. Seine Freundin Isa wollte ebenfalls mit von der Partie sein.
"Ich bin mir nicht sicher ob ich das schaffe." sagte ich meinem Freund bei einem gemeinsamen Bier. "Da müsste ich mir vorher noch ein neues Rad kaufen, denn mit dem alten Puch fahre ich sicher nicht nach Island. Kannst du mir bitte sagen wie sich das finanziell ausgehen soll?" Patrick winkte grinsend ab. "Ach, was du immer hast. Ich für meinen Teil werde mir irgendeinen alten Esel besorgen. Hauptsache er fährt geradeaus." Ich brummte missmutig. "Das mag ja für dich zutreffen. Aber schau mich an. Mein körperlicher Zustand ist katastrophal. Ich kann keine längeren Strecken mehr gehen und alles tut mir weh. Wenn das so weitergeht, kann ich die Tour höchstens im Rollstuhl machen." Patrick machte eine wegwerfende Handbewegung. "Alles Ausreden! Du redest ja sowieso daher, als ob du demnächst sterben würdest. Die frische Luft wird dir gut tun. Wirst sehen." "Ich bin mir nicht sicher. Irgendwie habe ich im Moment genug von alldem." sagte ich nachdenklich. "Immer wieder Arbeit suchen die keinen Spaß macht, diese ein paar Monate durchzuführen und dann wieder alles hinzuschmeißen. Diese Vorgehensweise hat die letzten drei Jahre mein Leben bestimmt und ich wollte diesen Teufelskreis eigentlich durchbrechen."
Doch die Dinge sollten anders kommen. Bereits wenige Wochen nach meiner Rückkehr aus Polen hatte ich wieder Arbeit gefunden. Das Konto füllte sich und um die Jahreswende 2015 ertappte ich mich bereits dabei, wie ich Räder und Ausrüstung im Internet studierte. Im Februar fuhr ich nach Wien und ließ mir beim Fahrradhändler Ciclopia mein Tourenrad zusammenstellen. Es wurde ein Lastenesel ohne jeglichen Schnickschnack. Schwarz wie die Nacht, Stahlrahmen, Felgenbremsen, ohne Logo, so bieder wie nur irgendwie möglich. "Das heißt also du bist dabei?" strahlte Patrick als ich ihm von meiner neuesten Investion erzählt hatte. "Das freut mich zu hören! Ich bekomme jetzt auch bald mein Fahrrad. Ein Arbeitskollege von mir hat eins daheim, das halbwegs passen müsste. Am besten machen wir im März nochmal eine Probetour und sehen wie das ganze so läuft." Ich nickte zustimmend. "Das ist eine gute Idee. Aber was ist eigentlich mit Isa? Hat die auch schon ein Rad?" "Ach da mach dir mal keine Sorgen, die haben unzählige Räder daheim." beruhigte mich mein Freund. Mitte März war es dann soweit. Unsere Probetour führte über den Tauernradweg von Salzburg nach Krimml. Das Rad welches Patrick von seinem Arbeitskollegen bekommen hatte, erweis sich als völlig ungeeignet. Der Gaul war uralt, rostig, viel zu klein und hatte eine miese Übersetzung. Auch Patrick waren diese Fakten nicht verborgen geblieben. Schon einen Tag nach der Probetour bekam ich eine SMS von ihm. "Neichs radl is kauft."
Am vierten Mai 2015 brachen wir zu dritt in Linz auf. "Wir", das waren ich, mein Freund Patrick und seine Freundin Isa. Der Donauradweg führte uns ein Stück flussaufwärts, vorbei an Äckern und Bauernhöfen. Das Tal der Donau wurde von mächtigen Granitfelsen und dichter Vegetation eingerahmt. Mit einer kleinen Radfähre überquerten wir den Fluss und gelangten an sein nördliches Ufer. In einem kleinem Ort namens Obermühl verließen wir die Donau und radelten entlang der Großen Mühl, das nach ihr benannte Tal hinauf. Dort ging es gleich einmal kräftig bergauf und wir kamen ordentlich ins Schwitzen. Im Vorfeld der Tour hatten wir zahlreiche mehr oder weniger schlaue Ratschläge bekommen wie wir am besten von Linz nach Tschechien fahren sollten. Auch der berüchtige Haselgraben wurde uns als Option vorgeschlagen. "Nicht mit mir." sagte Patrick. "Dort fahren sie wie die Wahnsinnigen. Mein Arbeitskollege hat mir erzählt dass er dort regelmäßig mit 170 Sachen durchpresst."
Das Mühltal war tief eingeschnitten und sehr ruhig. Auf der kleinen Straße herrschte so gut wie kein Verkehr. Wir kämpften uns nun von der Donau kommend, auf die Höhe des Mühlviertels hinauf. Die Anstiege waren nicht unbedingt steil, glichen das aber durch ihre Länge wieder aus. Als wir am Abend des ersten Tages die Bezirkshauptstadt Rohrbach erreichten, waren wir fix und fertig. "Jetzt nichts wie raus aus der Stadt und dann Lager gesucht." sagte ich zu meinen Freunden, nachdem wir unsere Vorräte beim örtlichen Supermarkt aufgestockt hatten. Doch auch hinter Rohrbach gingen die Steigungen weiter und Zeltplätze waren in der hügeligen Landschaft keine zu sehen. In unserer Verzweiflung campierten wir auf einem Steilhang, der noch dazu total verwachsen war. Als wir in die Zelte krochen waren wir übersäht mit winzigen Zeckennymphen, die überall auf der Vegetation gelauert hatten. Nachdem ich den Großteil der Viecher entfernt und aus dem Zelt befördert hatte, bemerkte ich dass meine Liegematte keine Luft mehr hatte. "Verdammt das gibts doch nicht!" schimpfte ich. "Was ist denn bei dir drüben los?" fragte Patrick durch die Zeltwand. "So einiges. Nicht nur die blöden Zecken, ich habe mein Zelt genau auf einer Glasscherbe aufgestellt." gab ich zurück und befühlte wütend die Löcher in Matte und Zeltboden. "Bei mir ist es auch nicht viel besser." maulte Patrick. "Die scheiß Brennpaste hat sich verselbstständigt und das ganze Kochgeschirr kontaminiert."
Am nächsten Morgen sahen wir alle ziemlich gezeichnet aus. Zwar hatte ich das Loch in meiner Matte mit dem Fahrradflickzeug stopfen können, doch geschlafen hatte in dieser Nacht keiner. Der Lagerplatz war derartig uneben gewesen, dass man ständig von der Matte und quer durchs Zelt kugelte. Wir radelten über die Hügel des Mühlviertels, welche im Morgennebel malerisch leuchteten. In Aigen im Mühlkreis wollten wir die Grenze nach Tschechien überqueren. "Wo wollt ihr denn hin?" fragte uns ein älterer Herr, als wir nach Aigen hineinradelten. "Hinüber nach Tschechien? Da würde ich euch empfehlen nicht hier über die Grenze zu fahren, sondern etwas weiter östlich in St. Oswald. Wenn ihr hier rüberfahrt macht ihr viele Höhenmeter, die ihr euch sonst sparen könnt." Doch wir ließen uns nicht beirren. "Was weiß schon dieser alte Knacker." sagte ich zu Patrick. "Die Straße geht pfeilgerade hinüber, wenn es wirklich so schlimm wäre müsste sie doch viel mehr Serpentinen haben."
Ich will es kurz machen. Die Steigung hinüber nach Tschechien war elendig steil und kostete uns eine gefühlte Stunde. Für mich war es sogar einer der schlimmsten Anstiege auf der ganzen Tour. Oben angekommen ging es dann auch schon wieder steil bergab. Die Straße führte durch ein ausgedehntes Waldgebiet, das von zahlreichen sumpfigen Gräben durchzogen wurde. Wir passierten ein paar verlassene Gebäude und kurz darauf befanden wir uns in der Tschechischen Republik. "Wenigstens sind wir auf dieser Tour gleich aus Österreich draußen und müssen nicht erst das halbe Land durchqueren wie es beim Jakobsweg der Fall war." sagte Patrick zufrieden. Wir folgten nun dem Moldauradweg, der uns durch ganz Tschechien bis zur Elbe führen sollte. Hinter der Grenze ging es zuerst am Lipno Stausee entlang. Dieses künstlich angelegte Gewässer sollte als Hochwasserschutz für die flussabwärts liegenden Städte dienen. Von den Tschechen wird es auf Grund seiner Größe "Jihočeské moře" auf Deutsch "Südböhmisches Meer" genannt.
Während wir so am Stausee entlangradelten, schleuderte ich plötzlich mein Rad von mir und hechtete nach etwas, das gerade im Begriff war in einem Grasbüschel zu verschwinden. Es war die größte Ringelnatter die ich je gefangen hatte. "Der Hund spinnt komplett." grinste Patrick und schüttelte den Kopf. "Pfeffert plötzlich sein Fahrrad von sich, nur um einer Schlange nach zu jagen. Solche Sachen kriege ich immer nur zu Gesicht wenn ich mit dir unterwegs bin." Erfürchtig bestaunten wir das wunderschöne Reptil, bevor ich es im Moldaustausee davonschwimmen ließ. Am Nachmittag passierten wir die Staumauer und erhaschten des erste Mal einen Blick auf die frei fließende Moldau.
Hinter dem Stausee war der Fluss lediglich ein kümmerliches Rinnsal, das sich zwischen riesigen Steinen seinen Weg suchen muss. Der Radweg führte einen wunderschönen Waldweg entlang, direkt durch die Schlucht der Moldau. Mit Karacho jagten wir die Wege hinunter und kamen uns wie die verwegensten Downhill Biker vor. Besonders Patrick, dessen dünnreifiges Rad für solche Wege total ungeeignet war, war stets vorne dabei. Den Nachmittag verbrachten wir in der Moldauschlucht, hüpften von Stein zu Stein durch das malerische Flussbett und freuten uns, dass wir hier sein durften.
Als wir die Schlucht hinter uns gelassen hatten, folgte ein zweiter kleiner Stausee und wenig später erreichten wir Vyšší Brod. Für Paddler ist die kleine Stadt der früheste Startpunkt einer Moldaubefahrung. Auch ich habe hier vor Jahren mein Boot zu Wasser gelassen. Nun war ich jedoch auf dem Landweg hier, was wesentlich kräftezehrender war als auf dem Fluss zu paddeln. Die Landschaft Südböhmens war gnadenlos hügelig und wir mussten dem Land jeden Kilometer mühsam abringen. Am Abend zelteten wir neben einem verlassenen Gebäudekomplex. Unmittelbar daneben befanden sich zahlreiche kleine Hütten. Das Gelände war komplett verwüstet und sah aus als wäre eine Naturgewalt hindurchgefegt. Wir ließen uns davon nicht stören und stellten auf der Wiese daneben unsere Zelte auf. Meine körperliche Verfassung war nicht die Beste. Der Rücken tat mir derartig weh, dass ich nur noch müde in meinem Sessel kauern konnte. "Gottseidank bin ich nicht alleine unterwegs." dachte ich mir. "Ich hätte nicht mehr den Willen so eine Tour alleine durchzuziehen."
Nach der katastrophalen ersten Nacht schliefen wir nun wie die Murmeltiere. Auch ein Gewitter das im Dunkeln an unseren Zelten rüttelte, störte uns nicht. Am nächsten Morgen radelten wir durch eine trübe Nebelsuppe. Die Wälder Südböhmens dehnten sich vor uns aus und der Weg führte über steile Waldwege in die Hügel hinauf. Kurz darauf fing es in Strömen an zu regnen und wir suchten Deckung unter dem Vordach einer Pension. Als wir schließlich weiterfuhren verloren wir uns in den Hügeln. Patrick und Isa waren weit zurückgefallen, nahmen eine falsche Abzweigung und kamen so vom Radweg ab. "Was treiben die beiden da hinten so lange?" dachte ich missmutig, während ich vor Kälte zitternd im Regen stand. Als die Beiden auch nach langem Warten nicht daher kamen, rief ich Patrick auf seinem Handy an. "Wir sind irgendwo falsch abgebogen. Fahr du einfach deinen Weg weiter, wir treffen uns in Český Krumlov." Es regnete unentwegt und ich fror wie ein Hund, während ich mich mühevoll die Steigungen hinaufkämpfte.
In Český Krumlov angekommen kehrten wir sofort in eine Taverne ein, um uns aufzuwärmen. Es war eine urige Gaststube mit rauchgeschwärztem Holzgebälk. Wenige Meter von unserem Tisch entfernt knisterte ein offenes Feuer, welches wir gleich zum Trocknen unserer Kleidung nutzten. Unsere Ausrüstung war nicht uneingeschränkt regentauglich. Patrick hatte nur ein Paar normale Straßenschuhe mit, die dem Regen nichts entgegenzusetzen hatten. Doch den Burschen juckte das nicht im geringsten. Er hatte den ganzen Jakobsweg ohne Regenschutz bestritten und für derartigen Firlefanz nur Verachtung übrig. Mir tat mein Kreuz derartig weh, dass ich nicht mehr klar denken konnte. Müde lehnte ich mich gegen die Wand der Gaststube und schloss die Augen.
Nachdem wir uns mit deftiger böhmischer Küche und tschechischem Bier gestärkt hatten, ging es auch schon wieder weiter. Der Weg aus Český Krumlov heraus führte gleich wieder ordentlich bergauf. Der Regen hatte gottseidank aufgehört und wir kamen gut vorwärts. In Zlatá Koruna kämpften wir uns einen letzten, unglaublich steilen Anstieg hinauf und hatten damit das Gröbste hinter uns. Für den Rest des Tages ging es mehr oder weniger eben dahin. Der Weg führte durch verschlafene kleine Dörfer, vorbei an Feldern und Wäldern. Abends lagerten wir am Rand eines lichten Laubwaldes und bestaunten den Sonnenuntergang.
"Hier müssen wir abbiegen wenn wir zum Hauptplatz wollen!" rief ich meinen Freunden zu. Wir hatten gerade die Stadteinfahrt nach České Budějovice hinter uns gebracht und freuten uns auf ein zünftiges Frühstück. Der quadratische Marktplatz sah noch genauso aus wie ich ihn in Erinnerung hatte. Das Wetter war heute auf unserer Seite und der Platz leuchtete in der Morgensonne. Budweis ist die größte Stadt Südböhmens, bekannt für sein Bier, zudem Universitätsstadt und Sitz eines Bistums. "Ich könnte gleich mal ein Bier vertragen." sagte Patrick und rieb sich begeistert die Hände. "Wenn wir hier schon an der Quelle sitzen darf das nicht ungenutzt bleiben. Ist zwar erst 10 Uhr morgens aber wir sind ja im Urlaub."
Mittlerweile wurden die Steigungen etwas sanfter aber keinesfalls weniger. "Jetzt kommen dann drei 5er und dann noch eine 10er Steigung." sagte ich mit Blick auf die Karte. Wir hatten die Anstiege mittlerweile in zwei Schwierigkeiten unterteilt: 5 für steil, und 10 für sehr steil. Da ich als einziger von uns in Besitz einer Karte war bekam ich oft den Unmut meiner Freunde zu spüren wenn wieder mal eine Steigung nicht eingezeichnet war. Am Nachmittag dieses Tages radelten wir am Atomkraftwerk Temelin vorbei. Dieses, von österreichischer Seite als "Risikoreaktor" bezeichnete Gebilde, ist durch seine Nähe zu Österreich bis heute ein rotes Tuch für die oberösterreichische Bevölkerung.
An diesem Abend lagerten wir in einem wunderschönen Laubwald. Die Sonne fiel durch die Blätter der Bäume und tauchte die Zelte in ein warmes Abendlicht. Unter dem Mantel der Dunkelheit marschierte eine Rotte Wildschweine um unser Lager. Es wurde gewühlt und geschmatzt was das Zeug hielt. Isa war von der nächtlichen Schweinerei nicht besonders angetan, Patrick und ich fanden es dagegen ganz witzig. Die Landschäft änderte sich nun maßgeblich. Wir ließen das südböhmische Hügelland hinter uns und durchquerten weite Ebenen. Es gab kaum Wiesen, dafür ausgedehnte Rapsfelder. Bemerkenswert waren auch die vielen Fischteiche. In Tschechien hat die Fischzucht eine lange Tradition. Fast alle Tschechen können sich ein Weihnachtsfest ohne Karpfen nicht vorstellen, obwohl viele zugeben ihn eigentlich gar nicht zu mögen.
Auf den Waldwegen fanden wir immer wieder Tiere, darunter Blindschleichen und kleine Ringelnattern. Die Wege selbst waren wunderschön und abwechslungsreich. Leider befanden sich viele von ihnen in erbärmlichem Zustand. Wir passierten Wald- und Geröllwege mit Schlaglöchern, in denen man problemlos ein Lagerfeuer hätte machen können. An anderen Stellen hatten die Tschechen haufenweise Dachschindeln und anderen Bauschut auf den Weg gekippt, was die Sache auch nicht besser machte. Patricks Hinterrad achterte bereits enorm und auch die Bremsscheiben hatten angefangen zu schleifen. Mit seinen dünnen Reifen hätte er das Rad auf solchen Wegen höchstens schieben dürfen. Dennoch sauste der Bursche mit Höchstgeschwindigkeit über das Gerümpel. "Die Wege sind super, da biegt es dir die Achter wieder aus." grinste er spitzbübisch.
Isa hatte eine klassische Radfahrerkrankheit, sie spürte ihre Hände nicht mehr. "Du musst dir neue Griffe kaufen." riet ich ihr. "Die Dinger sind viel zu klein, da drückt es dir auf den Nerv
im Handgelenk und dann spürst du nichts mehr." Am Abend wollten wir am Rande einer Wiese campen, doch der Bauer war gerade dabei am Waldrand Brennholz zu machen. Wir wollten abwarten bis er
verschwand und wuschen uns ersteinmal im angrenzenden Bach. "Das gibts doch nicht, will der hier die ganze Nacht durcharbeiten?" murrte Patrick. Es war bereits im Begriff dunkel zu werden und der
Mann war immer noch munter am werken. Letztendlich sahen wir uns gezwungen direkt neben dem Spazierweg die Zelte aufzustellen. "Das Lager mitten auf dem Weg." sagte ich kopfschüttelnd. "Das ist
wirklich der Niedergang jeder Zeltkultur. Früher hätte es das ncht gegeben." "Du hast es ja noch schön da hinten in der zweiten Reihe." maulte Patrick. "Ich habe morgen die Spaziergänger und ihre
Köter direkt vor der Haustür."
Nachdem ich am nächsten Morgen drei Zecken von meinen Beinen entfernt hatte, lugte ich vorsichtig aus dem Zelt. Draußen nieselte es leicht und der Himmel war wolkenverhangen. Mein rechtes Knie schmerzte ordentlich von den vielen Steigungen und die Motivation war im Keller. Lustlos schleppten wir uns vorwärts. Es war Sonntag, wir hatten keine Lebensmittel mehr und so beschlossen wir in ein Wirtshaus einzukehren. Von außen sah das Restaurant eigentlich noch ganz ordentlich aus. "Die servieren hier Kartoffelpürree zum Schnitzel." murmelte Patrick kopfschüttelnd und linste hinüber zum Nachbartisch. "Da nehme ich lieber was anderes." Die Penne Bolognese die wir schließlich vorgesetzt bekamen, sah aus als hätte sie ihre besten Zeiten schon lange hinter sich. Da es Sonntag war und wir keine Lebensmittel mehr hatten, beschlossen wir bis Prag durchzufahren.
Der Radweg führte das tief eingeschnitten Tal der Kocába hinunter. Neben dem Fluss standen zahlreiche kleine Häuser und das Tal wirkte wie ein eigener Mikrokosmos in sich. Einmal mussten wir sogar mit den Rädern durch einen Bach fahren, der gottseidank nur wenige Zentimeter tief war. Das Tal spuckte uns direkt auf die Hauptstraße Richtung Prag aus. Ab hier war es mit der Idylle weitgehend vorbei. Die Straße hatte keinen Radstreifen und so fuhren wir direkt im Verkehr nach Prag hinein. Gottseidank war es Sonntag und das Verkehrsaufkommen hielt sich halbwegs in Grenzen. Als wir endlich im Zentrum angekommen waren ging die Schinderei weiter. Wir mussten die Räder auf eine der Brücken hinauftragen, um zum Campingplatz am anderen Moldauufer zu gelangen. Der Gehsteig Richtung Campingplatz war in furchtbar schlechtem Zustand. Durch die Erschütterungen flogen Patricks Radtaschen vom Gepäckträger und in alle Richtungen davon. Der Campingplatz selbst lag auf einer Insel in der Moldau und war angenehm ruhig. Am Abend fuhren wir hinein in die Stadt und feierten unser Ankunft. In einem urigen Wirtshaus schlemmten wir Gulasch und Knödel. Patrick verschlang im Alleingang eine Stelze, die normalerweise für zwei Peronen gedacht wäre. Müde und vollgefressen fielen wir abends in unsere Zelte.
Im Halbschlaf bemerkte ich, wie sich ein Schatten zwischen mein Zelt und die Laterne gegenüber schlich. Dann hörte ich gedämpfte Stimmen. Instinktiv riss ich den Zelteingang auf und hechtete mit einem Satz hinaus. Draussen standen vier Gestalten, die mit ihren Kapuzenpullovern alles andere als freundlich aussahen. "Was sind das für Hooligans!?" dachte ich mir, und versuchte mich aus meinem Schlafsack freizukämpfen. Doch die Burschen hatten den Ernst der Lage ebenfalls erkannt und liefen wie die Hasen. Mein Blick schwenkte hinüber zum Zelt meiner Freunde, auch deren Zelteingang stand offen. Allerdings schliefen die zwei so fest, dass ich sie gar nicht erst wach bekam. Nachdem ich meine Ausrüstung auf ihre Vollständigkeit überprüft hatte, legte ich mich auch wieder aufs Ohr und war in wenigen Minuten eingeschlafen.
"Kleine Straßen und einsame Wälder, in die sich kaum jemals ein Mensch verirrt."
Die Realität unterschied sich leider maßgeblich von meiner naiven Vorstellung. Das Elbsandsteingebirge entpuppte sich als regelrechtes Touristenloch. Unzählige deutsche Motorradfahrer, Radler und Wanderer waren unterwegs. Einsamkeit kam nur in den allerseltensten Fällen auf. Heftige Steigungen waren nun wieder an der Tagesordnung und wir kamen äußerst langsam voran. Dennoch war die Landschaft eine Augenweide. Patrick und Isa wollten unbedingt eine Wanderung zum sogenannten Prebischtor unternehmen. Bei besagter Touristenattraktion handelte es sich um die größte Sandsteinbrücke Europas. Allerdings waren es fünf Kilometer Fußmarsch bis dorthin und der Gedanke an die Wanderung stimmte mich alles andere als euphorisch. Da ich jedoch keine Lust hatte alleine bei den Rädern hocken zu bleiben, trottete ich murrend mit. Durch die Schmerzen in meinen Füßen kamen mir die fünf Kilometer wir eine Ewigkeit vor. Der Schmerz war mittlerweile ein ständiger Bewohner meines Körpers geworden, der ständig das Zimmer wechselte. Er wohnte in meinen Füßen, nistete sich in meiner Wirbelsäule ein und verbiss sich in meinen Händen. Als wir endlich am Prebischtor angekommen waren, traute ich meinen Augen kaum. Was hier an Touristen herumlief war ein Wahnsinn und am liebsten hätte ich auf dem Absatz kert gemacht.
"Das ist ja noch einmal gut gegangen." dachte ich mir, doch beim Wechseln erlebten wir die nächste Überraschung. Der neue Schlauch hatte kein Sklaverand- sondern ein Autoventil. Dieses war um ein paar Milimeter dicker und passte daher nicht durch das Loch in der Felge. "Jetzt haben wir ein Problem." dachte ich mir und setzte mich auf den Boden. Aber da kannte ich meinen Freund schlecht. Patrick wurde still und dachte kurz nach. Dann griff er sich die Felge und nudelte das Loch mit seinem Werkzeug solange aus, bis es groß genug war. Das Ventil passte hindurch und die Fahrt konnte weiter gehen. Nachdem der kleine Ort hinter uns lag, bauten wir unter einer mächtigen Kastanie die Zelte auf. Erschöpft legte ich mich ins Gras und schloss die Augen.
"Lass uns jetzt das Radeberger Pils probieren." sagte Isa, als die Gläser endlich geleert waren. Aber auch dieses Bier konnte nicht überzeugen. "Pfui Teufel, das ist ja noch schlimmer als das erste. Hier, du kannst meines auch noch haben." sagte Isa zu Patrick und schob ihm ihr halbvolle Glas hinüber. In Patricks Gesicht spiegelten sich Fassungslosigkeit und blankes Entsetzen. "Normalerweise bin ich beim Bier nicht empfindlich, aber sowas ist mir selten untergekommen. Wenn ich mal eine schwarze Liste für ungenießbare Biere anlege, stehen diese beiden ganz oben."
Am Brandenburger Spreeradweg waren die Leute hilfsbereit und freundlich. Dank der flachen Landschaft machten wir ordentlich Strecke und näherten uns nach und nach der Hauptstadt Berlin. Unseren letzten Abend an der Spree verbrachten wir auf einem offiziellem Behindertenangelplatz hinter Fürstenwalde, direkt am Fluss. Nun wollte noch die Stadteinfahrt nach Berlin bewältigt werden. Der Spreeradweg schlängelte sich durch ausgedehnte Wälder und Parkanlagen, bevor er schließlich das innere Stadtgebiet erreichte. Berlin erschien mir auf den ersten Blick als hässlicher Molloch, ohne erkennbare Verkehrsregeln. Nachdem wir uns ein Stück durch die Stadt gekämpft hatten, war das Ziel endlich erreicht.
In Kreuzberg wurden wir von Isas Freund Alex in dessen Wohnung aufgenommen. Alex war ein Landsmann von uns und verdiente sich in Berlin als Cembalospieler seinen Lebensunterhalt. "Der Verkehr hier ist wirklich gewöhnungsbedürftig." stimmte er uns zu. Vor kurzem bin ich mit dem Taxi nach Hause gefahren als plötzlich ein Radfahrer ohne Beleuchtung aus dem Nichts vor uns aufgetaucht ist. Wir haben ihn genau erwischt. Richtig durch die Luft geflogen ist der Kerl. Aber der Taxifahrer hat es gelassen genommen. Hat gesagt dass ihm das schon öfter passiert ist. Und der Radfahrer ist dann auch weiter gefahren als wäre nichts gewesen."
An einem Sonntagmorgen war es schließlich an der Zeit Berlin hinter uns zu lassen. Der Berlin - Kopenhagen Radweg leitete uns durch die nördlichen Außenbezirke, geradewegs aus der Stadt heraus.
Die Route führte entlang der Havel, flussaufwärts in Richtung Oranienburg. Bei dieser handelt es sich jedoch um keinen gewöhnlichen Fluss, sondern vielmehr um eine künstliche Wasserlandschaft die
aus Kanälen, großen Seen und zahlreichen Schleusen besteht. Da der Höhenunterschied zwischen Quelle und Mündung gerade einmal vierzig Meter ausmacht, ist die Havel auf weiten Strecken beinahe
strömungslos.
"Was ist das denn?“ fragte Patrick entgeistert, als wir in Oranienburg eine Pause machten. "Schnitzel mit Toast kannst du hier bestellen. Sachen gibt es, das glaubt dir zuhause keiner.“ Ich
musste grinsen. "Ach das ist noch gar nichts. Da habe ich entlang der Elbe schon ganz andere kulinarische Köstlichkeiten gesehen.“ Am Ziernsee überschritten wir eine weitere Landesgrenze und
erreichten mit Mecklenburg-Vorpommern das letzte deutsche Bundesland. Die Landschaft wurde zunehmend sandig und leicht hügelig. Der Bodenbelag wechselte zwischen unbefestigten Waldwegen,
asphaltierten Straßen und holprigen Betonspurbahnen. Manche der Straßen waren mit merkwürdigen runden Steinen gepflastert, die jedem Radfahrer das Fürchten lehren konnten.
Auf einem Waldweg passierte dann das nächste Unglück. Beim Nachpumpen von Isas Reifen, entdeckten wir ein unflickbares Loch, unmittelbar neben dem Ventil. Anscheinend war uns der Vorfall in Tschechien keine ausreichende Lehre gewesen, denn wir hatten noch immer keinen Reserveschlauch dabei. Es blieb uns nichts anderes übrig, als zu zweit in den nächsten Ort zu fahren und nach einem Fahrradgeschäft Ausschau zu halten. "Jetzt kaufe ich gleich vier Schläuche." knurrte Patrick gegen den Fahrtwind und trat wütend in die Pedale. "Noch einmal passiert mir das auf dieser Tour nicht mehr." In Wesenberg gab es tatsächlich einen kleinen Fahrradladen. Diesmal ließ Patrick seinen Worten Taten folgen und kaufte ausreichend Schläuche und Flickzeug ein. Dann schwang sich mein Kumpel wieder aufs Rad und strampelte zurück, um seine Freundin aus ihrer misslichen Lage zu befreien.
Währenddessen musste ich an einem Geldautomaten feststellen, dass meine Bankomatkarte in Berlin geblieben war. „Wahrscheinlich habe ich sie in einem der Fahrkartenautomaten stecken lassen." ging
es mir durch den Kopf. "Dafür muss ich diese jetzt hüten wie meinen Augapfel." dachte ich und drehte meine Kreditkarte nachdenklich zwischen den Fingern hin und her. Es dauerte nicht lange, da
kamen auch meine beiden Freunde in Wesenberg an. "Was ist denn das schon wieder für ein verpfuschter Tag heute?" jammerte Patrick und schleuderte sein Rad von sich. "Nicht einmal die verflixte
Luftpumpe hat noch funktioniert. Wenn nicht zufällig ein paar andere Radler vorbeigekommen wären, hätten wir noch lange dort im Wald stehen können. Von mir aus können wir den Tag schon abhaken.
Recht viel weiter fahre ich heute jedenfalls nicht mehr."
Mecklenburg-Vorpommern ist mit 1,8 Millionen Einwohnern das am dünnsten besiedelte und am ländlichsten geprägte deutsche Bundesland. Die Landschaft war flach bis leicht hügelig, mit unzähligen Seen und Tümpeln dazwischen. Insgesamt soll die Anzahl der Gewässer in die Tausende gehen. Da die Seen allesamt in eine flache Landschaft eingebettet waren, sahen sie vom Ufer aus betrachtet, alle ziemlich gleich aus. Mit seinen drei Nationalparks besitzt Mecklenburg-Vorpommern mehr dergleichen, als jedes andere deutsche Bundesland. Auch die Mecklenburgische Küste ist mit einer Länge von über 2000 Kilometern die längste Deutschlands. Die Radwege als solche, schwankten stark in ihrer Qualität. Gute Kies- und Schotterwege verloren sich unvermittelt in abenteuerlichen Sandpisten, auf denen es kein Weiterkommen mehr gab. Auch die legendären „DDR-Kopfsteinpflaster“ kamen immer wieder vor.
Als wir durch den Kurort Waren an der Müritz fuhren, drehte sich Patrick grinsend zu mir um. "Schon wieder so ein Rentnerparadies hier. Das beste wäre sie würden gleich beim Ortseingang ein
Schild aufstellen: "Waren an der Müritz - hier können Sie alt werden." Dann wüsste man gleich was einen erwartet.“ Im Gegensatz zu den bisherigen Städten Mecklenburg-Vorpommerns, herrschte in
Waren reges Treiben. Zahlreiche Touristen flanierten durch die Straßen und am See gab es sogar einen kleinen Hafen. Die Müritz ist vor dem Chiemsee das größte stehende Gewässer auf deutschem
Bundesgebiet.
Am nächsten Tag war es plötzlich an mir, alles Unglück anzuziehen. Zuerst wurde ich in Krakow am See fast von einem Auto über den Haufen gefahren. Anschließend landete noch der Frühstückskaffee
auf meinem T-Shirt. Dementsprechend schlecht gelaunt war ich den Rest des Tages. Abends wurde die Lagersuche zum regelrechten Problem. Unser erster Versuch führte zu einem Misthaufen, der zweite
endete in einem zugewachsenen Brennnesseldickicht. Als wir auf einem Feldweg endlich fündig wurden, waren bereits fast die Vororte von Rostock erreicht.
Mit Rostock erreichten wir am darauf folgenden Tag die größten Stadt des Bundeslandes. 200.000 Menschen leben in der Hansestadt, die damit das wirtschaftliche Zentrum Mecklenburg-Vorpommerns bildet. Während unseres Aufenthalts spielte das Wetter allerdings komplett verrückt. Heftige Regenschauer wechselten sich mit kurzen Schönwetterphasen ab. Als wir gerade in einem Radgeschäft am Stöbern waren, begann es plötzlich wie von Sinnen zu schütten. „Verdammt, meine Kamera!“ fluchte ich und wollte aus dem Geschäft in den Regen stürmen. Patrick bekam mich gerade noch am Kragen zu fassen. „Steve, beruhige dich. Du hast deine Kameratasche unter dem Arm.“
Aus Angst vor den dänischen Preisen füllten wir unsere Taschen bis zum Anschlag mit Lebensmitteln. Patrick und Isa bunkerten haufenweise Konservendosen und anderes Fertigfutter. Aber auch meine Gepäcktaschen gingen fast nicht mehr zu, als der ganze Proviant endlich verstaut war. „Was willst du denn mit dem ganzen Räucherschinken?“ fragte Patrick und schüttelte den Kopf, während er mir beim Packen zusah. „Das sind fast anderthalb Kilo.“ antwortete ich schulterzuckend. „Bis Island muss ich jedenfalls kein Fleisch mehr kaufen.“ Nachdem alle Besorgungen erledigt waren, machten wir uns auf den Weg zum Überseehafen im Stadtteil Warnemünde. Der Berlin - Kopenhagen Radweg endete unmittelbar vor dem Fährterminal. Nun galt es mit dem Schiff die Ostsee zu überqueren und auf die dänische Insel Falster überzusetzen. Nachdem die Tickets gekauft waren, schlenderten wir zurück zu unseren Rädern. In der Wartehalle des Fährterminals fiel mir ein komischer Kerl auf. Mit seinem großem Rucksack und der Warnweste sah er aus wie ein Vagabund, der schon länger auf Reisen zu sein schien. In den Händen hielt er ein Schild, das ich aus der Entfernung jedoch nicht entziffern konnte.
"Kann ich dir vielleicht irgendwie helfen?" fragte ich ihn, als ich auf der anderen Seite der Halle angekommen war. Mit leuchtenden Augen sprang der Kerl auf. "Ja allerdings, ich brauche ein
Ticket für die Fähre! Du musst wissen, ich reise ohne Geld durch die Welt und befinde mich auf einer Pilgerfahrt von London nach St. Petersburg." antwortete der kleine Mann. Ich pfiff anerkennend
durch die Zähne und nickte. „Hier kauf dir eine Überfahrt." antwortete ich, ohne zu überlegen und hielt ihm einen Geldschein unter die Nase. Doch der Pilger machte keine Anstalten ihn anzunehmen.
"Bitte kommt doch mit zum Schalter und bezahle für mich." sagte mein Gegenüber. "Wie ich schon gesagt habe, bin ich ohne Geld unterwegs. Und das soll heißen ich berühre auch kein Geld." "Was
für ein schräger Vogel!" dachte ich mir, hin und her gerissen zwischen Bewunderung und Skepsis. "Komm mit." sagte ich letztendlich und marschierte mit ihm ins Ticketbüro. "Hier der Mann will
rüber nach Dänemark." informierte ich den Schalterbediensteten und legte den Geldschein auf den Tresen. Meinem Vagabundenfreund klopfte ich auf die Schulter. "Tut mir leid Kumpel, aber ich muss
jetzt los zur Fähre! Viel Glück auf deiner Pilgerfahrt!"
"Wo warst du denn solange? Wir müssen los." sagte Patrick als ich wieder zur Gruppe aufgeschlossen hatte. "Ach, nicht so wichtig." murmelte ich und radelte hinter meinen Freunden her Richtung
Schiff.
Die Überfahrt nach Dänemark nahm etwa zwei Stunden in Anspruch. Als wir am Abend endlich auf der dänischen Insel Falster ankamen, wehte uns ein eisiger Wind entgegen. Das Wetter wechselte fast im Minutentakt und die Wolken rasten wie von unsichtbaren Fäden gezogen über den Himmel. Es hätte keinen Sinn gemacht an diesem Tag noch weiter zu radeln. Glücklicherweise gab es am Strand von Gedser einen halboffiziellen Biwakplatz, auf dem wir unsere Zelte aufschlugen. Dort standen mehrere Picknickbänke herum und am anderen Ende des Strandes entdeckten wir sogar eine kleine Schutzhütte. Patrick und Isa stellten ihr Zelt auf einem windgeschützten Pfad auf, was sich als gute Idee herausstellen sollte. Die ganze Nacht hindurch tobte ein derart heftiger Sturm, dass ich das Gefühl hatte mein Zelt könnte jeden Moment davonfliegen. Obwohl mich die Vegetation vom Wind abschirmte, brachte ich kaum ein Auge zu. "Wie wird das erst auf Island werden, wo es so gut wie keinen Windschutz gibt?" dachte ich missmutig und lauschte dem Heulen des Sturmes.
Während ich schlaflos in meinem Zelt lag, waren meine Gedanken frei. Sie wanderten zurück, zu meiner heutigen Begegnung am Fährterminal. Auf dem Schiff hatte ich Gelegenheit gehabt, mich noch einmal ausführlich mit dem Pilger zu unterhalten. „Ich wurde in einem kleinen Königreich in Asien geboren, das heute nicht mehr existiert.“ sagte der kleine Mann. „Im Zuge der ersten Finanzkrise habe ich mich entschieden, meinen Job in London zu kündigen und ohne Geld durch die Welt zu reisen. Ich besitze unter anderem die englische Staatsbürgerschaft, führe aber keinen Pass mit mir.“ Ich nickte. „Daher also der britische Akzent.“ ging es mir durch den Kopf. „Hattest du denn nie Probleme an den Landesgrenzen oder bei Kontrollen?“ warf ich zwischendurch ein.
„Doch, in Ungarn ist einmal ein Polizist mit dem Schlagstock auf mich losgegangen. Rumänien war auch ein hartes Pflaster. Und in Kanada bin ich tagelang in einer Zelle gesessen, weil ich
„illegal“ das Land betreten habe.“ Ungläubig schüttelte ich den Kopf. „Hast du nicht gesagt dass du dieses Mal nach St. Petersburg möchtest? Wie willst du nach Russland ohne Pass hineinkommen?
Ich dachte das ist ohnehin nur mit Einladung möglich?“ Mein Gegenüber lächelte. „Weist du Steve, ich denke stets nur bis zum Abend des jeweiligen Tages. Wenn ich mir heute schon Gedanken über das
machen würde was in einem Monat sein wird, wie sollte ich da nicht völlig verzweifeln? Letztendlich findet sich immer ein Weg, so wie heute in der Fährhalle. Auch dort habe ich zwei Tage
ausharren müssen, bis du aufgetaucht bist und mir das Ticket gekauft hast.“ Wir umarmten uns zum Abschied. Gedankenverloren starrte ich nun auf die windgebeutelte Zeltwand. „Es gibt wahrhaftig
schräge Vögel auf dieser Welt.“ waren meine letzten Gedanken, bevor ich in einen unruhigen Halbschlaf verfiel.
Am nächsten Morgen kam ein älteres Ehepaar den Strand herab spaziert. „Ist denn dieser Platz irgendwo gelistet, weil immer wieder Radfahrer hier campieren?“ fragten sie uns lächelnd. „Allerdings.“ antwortete ich und zeigte ihnen unseren Bikelineführer. „Ah, dann ist dieses Rätsel für uns gelöst.“ Die beiden Dänen setzten sich zu uns und erzählten Geschichten über das Leben in ihrem Land. "Ihr befindet euch hier im sogenannten „Udkantsdanmark"." erklärte uns die Dame. "Das ist eine dänische Bezeichnung für strukturschwache Radgebiete unseres Landes." Ihr Ehemann nickte. „Darunter fallen fast alle der kleineren Inseln. Obwohl die Landflucht ein großes Problem darstellt, sind viele von ihnen immer noch bewohnt. Wir leben in Gedser, dem kleinen Dorf wo die Fähren anlegen. Die Schiffe sind nach den beiden Prinzen benannt, Prins Christian und Kronprins Frederik." Ich nickte. "Wir sind gestern Abend mit Prinz Frederik gekommen." Die alte Dame lächelte. "Das ist gut. Ihn mag ich am liebsten. Er ist der Kronprinz und wird eines Tages unser neuer König." Als wir wieder auf den Rädern saßen, schaute Patrick ziemlich missmutig drein. "Was ist denn mit dir los?" fragte ich meinen Kumpel. "Ach nichts, ich wünschte nur ich könnte gescheit Englisch.“ brummte er zurück. „Sogar diese alten Leute können sich besser verständigen als ich."
Die dänische Insel Falster stellte sich als ruhige und beschauliche Gegend heraus. Es ging den ganzen Vormittag entlang kleiner Straßen, bis wir gegen Mittag die Inselhauptstadt Nykøbing Falster erreichten. Diese kleine Stadt war alles andere als eine Metropole und an jenem Sonntag lag sie wie ausgestorben vor uns. An einem Geldautomaten hoben wir das erste Mal dänische Kronen ab und studierten staunend die fremdartigen Geldscheine. Am Hauptplatz kehrten wir in eine kleine Bäckerei ein. "Das ist ja lustig." sagte Patrick, als er mit einer weiteren Runde Kaffee zurück an unseren Tisch geschlendert kam. "Der zweite Kaffee hat im Vergleich zum ersten nur mehr die Hälfte gekostet. "Refill" nennen die das hier. Ich muss sagen, dieses Land gefällt mir immer mehr.“ Der Radweg führte den gesamten Tag mehr oder weniger am Meer entlang. Nachmittags legten wir eine Pause an einem idyllischen Strand ein. „Lasst uns doch heute einmal früher Schluss machen und hierbleiben.“ schlug Isa vor. Auch Patrick und ich waren nicht mehr besonders motiviert und so stellten wir direkt am Strand unsere Zelte auf.
Den Rest des Tages war das Wetter noch einwandfrei, aber in der Nacht wurde es richtig ungemütlich. Kaum hatte ich die Augen zugemacht, als mich heftige Sturmböen wieder aus dem Schlaf rissen. "Ich muss etwas unternehmen, sonst nietet mir der Wind noch das Zelt um." dachte ich verzweifelt. Die Heringe fanden im sandigen Boden keinen gescheiten Halt und durch den Wind hatte ich ständig die linke Zeltwand im Gesicht kleben. Verzweifelt versuchte ich mein Zelt umzustellen und in eine bessere Position zu bringen. Während ich draußen in der Dunkelheit hantierte, fing es auch noch an zu regnen. Total durchnässt und voller Sand, kroch ich letztendlich in meinen Schlafsack. "Nie wieder auf einem Sandstrand." waren meine letzten Gedanken, bevor ich schließlich doch noch einschlief.
Am nächsten Morgen leuchtete wieder die Sonne und nichts deutete mehr auf die Wetterkapriolen der Nacht hin. "Du siehst verdammt fertig aus." sagte Isa, als ich meinen Kopf aus dem Zelt steckte.
"An diese Nacht möchte ich in meinem Leben nicht mehr erinnert werden." brummte ich zurück und begann missmutig den Sand aus meinem Zelt zu klauben. Wir radelten gerade einen Waldweg entlang und
waren noch nicht weit gekommen, als Isa plötzlich anhielt. "Steve warte kurz, mein Hinterreifen hat keine Luft." Ich fuhr mir mit der Hand übers Gesicht. "Das darf doch wohl nicht wahr sein.
Wo ist eigentlich unser Ingenieur wenn man ihn einmal braucht?" murrte ich. Patrick war weit vorausgefahren und hatte von unserer Reifenpanne nichts mitbekommen. "Dann müssen wir eben selbst
zusehen wo wir bleiben." seufzte ich. Der Verursacher des Patschens entpuppte sich als kleiner schwarzer Stein, welcher sich wie ein Dolch unmittelbar durch den Mantel gebohrt hatte. Gottseidank
hatten wir mittlerweile einen Ersatzschlauch im Gepäck und konnten den Schaden rasch beheben.
In Stubbekøbing setzten wir mit einer Fähre auf die kleine Insel Bogø über. Bogø war durch einen Damm mit der Insel Møn verbunden, einem weiteren langgezogenen Eiland. Auf Møn angekommen, entschieden wir uns für einen kleinen Umweg. Am östlichen Ende der Insel lag Møns Klint, eine 128 Meter hohe Steilklippe aus weißen Kreidefelsen. Der Weg dorthin führte auf kleinen Straßen durch eine geschwungene Landschaft, die aus Wiesen und Feldern bestand. Oberhalb der Kreidefelsen war ein modernes Besucherzentrum errichtet worden, das eine Menge Geld gekostet haben muss. Über eine lange Holztreppe gelangten wir die Steilküste hinunter zum Meer und bestaunten die weißen Klippen. Unzählige Vögel hatten in der Steilböschung ihre Nester errichtet und schwärmten in sämtliche Himmelsrichtungen. Die Küste selbst verändert sich ständig, da immer wieder Teile von ihr abbrechen und ins Meer stürzen.
Während wir einträchtig nebeneinander standen und die Felsen bewunderten, redete uns plötzlich jemand in unserer Muttersprache an. "Nach Island wollt ihr? Da bin ich auch schon gewesen.“ erzählte unser Gegenüber, ein Deutscher mit Glatze und dunkelblauer Hardshelljacke. „Allerdings noch zu D-Mark Zeiten. Eine der schönsten Touren meines Lebens, aber auch eine der teuersten. Skandinavien ist generell kein billiges Pflaster. Als wir gestern mit dem Auto über die Öresundbrücke nach Kopenhagen gefahren sind, haben sie uns 58 Euro Maut abgeknöpft.“ schimpfte er im schwäbischem Dialekt. "Wie sind denn die Skandinavischen Länder untereinander im Preisniveau?" wollte ich von ihm wissen.
Der Mann überlegte kurz und nestelte am Kragen seiner Jacke herum. "Tja, ich würde sagen dass Dänemark am günstigsten ist. Dann kommt wohl Schweden. Norwegen und Island sind am teuersten. Es kann aber sein, dass Island mittlerweile ein wenig preiswerter geworden ist.“ fügte schnell hinzu, nachdem er unsere Blicke gesehen hatte. „Die Isländer wurden von der Finanzkrise hart getroffen und mussten daher ihre Währung massiv abwerten. Ich schätze jedoch, dass sie sich mittlerweile wieder halbwegs erholt haben. Stellt euch lieber auf das Schlimmste ein.“ „Das kann ja heiter werden.“ sagte ich zu Patrick, während wir die Treppen zum Besucherzentrum wieder hinaufstiegen. „Dänemark soll noch am billigsten sein. Und wenn du mich fragst, ist das hier schon alles andere als ein Schnäppchenparadies.“
Die folgende Nacht verbrachten wir direkt am Besucherzentrum Møns Klint. Auf der Wiese daneben stellten wir unsere Zelte auf und schliefen wie die Murmeltiere. Leider wurde das Wetter über
Nacht wieder schlechter und am nächsten Morgen mussten wir uns gegen heftigen Gegenwind über die Insel kämpfen. Es war bereits Nachmittag, als wir endlich in Stege, dem Hauptort der Insel
ankamen. Dort kaufte ich in einem kleinen Fahrradgeschäft ein Paar Handschuhe. „Die werden mir auf Island noch gute Dienste leisten.“ dachte ich zufrieden. Mittlerweile regnete es in Strömen und
wir suchten Deckung in einer netten Bäckerei. Patrick und Isa spielten mit dem Gedanken sich in Kopenhagen erstmals seit Beginn der Tour wieder ein Zimmer zu leisten. Nachdem sie sich im Internet
die Preise angesehen hatten, wurde der Gedanke jedoch gleich wieder verworfen. Als wir uns endlich zur Weiterfahrt aufraffen konnten, war es bereits später Nachmittag. Der Radweg führte nun
mehrere Kilometer eine Straße entlang, auf der höllischer Verkehr herrschte. Anschließend mussten wir den Ulvsund über eine Brücke queren. Der Wind griff mit aller Kraft von der Seite an und
zerrte wütend an unserer Kleidung. „Wenn sich hier einer von uns hinlegt, steht er nicht mehr auf.“ dachte ich, während wir auf der anderen Seite der Brücke wieder hinuntersausten. Doch das Glück
war auf unserer Seite und wenig später befanden wir uns auf Sjælland, der letzten dänischen Insel.
Das Wetter wechselte nun im Stundentakt zwischen Sonnenschein und heftigsten Regenschauern. "Dieser verdammte Wind geht mir langsam auf die Nerven." schimpfte Isa und auch Patrick war alles andere als gut gelaunt. "Auf Island werden wir uns nach solchen Verhältnissen sehnen." versuchte ich meine Mitradler erfolglos zu trösten. Die dänische Bevölkerung erwies sich im Gegensatz zum Wetter als äußerst freundlich. Selbst die Autofahrer verhielten sich rücksichtsvoll und grüßten uns oft im Vorbeifahren. Entlang der Radwege gab es Sitzgelegenheiten und Picknickplätze. Auch die Supermärkte hatten alles was das Herz begehrte. In einem Restaurant essen zu gehen, wäre allerdings viel zu teuer gewesen. "Wie wird das erst in Schweden und Island werden." dachte ich mit Blick auf die Preise, während wir in Køge beim Bier saßen. Patrick betrachtete währenddessen sein Spiegelbild in einer Fensterscheibe. „Jetzt ist es beschlossen.“ sagte er nach einer ausgiebigen Musterung. „Der Bart muss weg.“
Bald darauf begannen die Vororte von Kopenhagen. Ein Monat nachdem wir in Linz aufgebrochen waren, erreichten wir damit die dritte Hauptstadt unserer Reise. In Ishøj, einem Kopenhagener Vorort, quartierten wir uns am lokalen Campingplatz ein. Eine riesige Zeltwiese dehnte sich vor uns aus, die wir mehr oder weniger für uns alleine hatten. Kopenhagen entpuppte sich als eine nette und überschaubare Stadt, die sich zu Fuß gut erkunden ließ. Aber auch der Verkehr verlief, im Vergleich zu Berlin, verhältnismäßig friedlich. Für Radfahrer gab es mehrere Meter breite Radwege, die autobahnartig ausgebaut waren. Auf ihnen tummelten sich aggressive Kampfradler die häufig im Pulk auftraten.
Sie waren auf uralten Rädern mit 3 Gang Nabenschaltung unterwegs, die bestimmt schon seit der Wickingerzeit kein Öl mehr gesehen hatten. Trotzdem strampelten die Kopenhagener mit einer Geschwindigkeit dahin, dass einem Angst und Bange werden konnte. Einziger Wermutstropfen war das verhältnismäßig hohe Preisniveau in der Stadt. Ein Tagesticket für die S-Bahn kostete etwa zwanzig Euro und auch der Campingplatz war alles andere als preiswert. "Und da gibt es immer noch Leute die behaupten, dass Zugfahren in Österreich teuer ist." sagte ich zu Patrick. "Für zwanzig Euro kannst du bei uns über hundert Kilometer fahren."
Während einer S-Bahn Fahrt in die Innenstadt, kam ich mit einem netten Dänen names Bent ins Gespräch. "Für euch als Österreicher muss es hier in Dänemark ja ziemliche günstig sein." mutmaßte der Kopenhagener. "Günstig?“ lachte ich. „Da täuschst du dich aber gewaltig. Ich schätze dass hier alles doppelt so viel kostet wie in Deutschland oder Österreich. Aber sag mal …“ fragte ich nach kurzem Nachdenken. „Wie schätzt du das Preisniveau im Vergleich zu euren Nachbarländern ein?“ Bent überlegte kurz. „Ich würde sagen dass Schweden etwas günstiger ist als Dänemark. Aber die Norweger, die haben richtig viel Geld, das sie mir ihrem Öl verdienen. Dort haben sie Preise, als würden sie jede Wassermelone einzeln einfliegen lassen. Als meine Schwester Geburtstag hatte, feierten wir auf den Lofoten. In einem Moment geistiger Umnachtung habe ich mich dazu hinreißen lassen, die ganze Familie zum Essen einzuladen. Das habe ich anschließend bitter bereut." lachte der Däne und schüttelte seinen blonden Kopf.
"Wie sieht es eigentlich mit der Sprache aus? Versteht ihr einander?" hakte ich weiter nach. "Ja die Norweger und Nordschweden sind einfach zu verstehen. Südschweden ist schon schwieriger, obwohl es ja direkt gegenüber liegt. Warum das so ist, weiß ich auch nicht genau." Er führ sich nachdenklich mit dem Finger über die Wange und fuhr schließlich fort: "Die Isländer diese alten Wikinger sitzen immer noch dort oben auf ihrer Insel. Mit denen hatte ich bis jetzt noch nie zu tun. Die Färöer Inseln dagegen, sind Teil unseres Königreiches. Sie würden gerne unabhängig sein, können es sich aber wirtschaftlich nicht leisten. Dort oben auf deren Insel gibt es wenig mit dem sich Geld verdienen lässt, außer dem Tourismus. Allerdings haben die Färinger ein Problem.“ Bent grinste. „Sie wollen eigentlich keine Touristen auf ihrer Insel haben. Daher stecken sie in einer Art Zwickmühle. Stolze Burschen sind das und extrem kräftig. Echte Wikinger eben. Deren Dialekt ist für uns nahezu unverständlich." Er seufzte. "Eines Tages muss ich diese Inseln selbst aufsuchen. Aber wenn du einmal Kinder und ein Auto hast, bist du echt ausgebremst. Naja Steve, hat mich gefreut dich kennen zu lernen. Ich wünsche dir noch eine tolle Zeit in Kopenhagen."
Doch schon bald hatte ich von der Stadt und ihrem Trubel wieder genug. Die nächsten Tage verbrachte ich alleine auf dem Campingplatz. Patrick und Isa erkundeten Kopenhagen, während ich im Zelt lag und gedankenverloren in den Himmel starrte. Das Vagabundenleben hatte mittlerweile viel von seinem einstigen Glanz verloren. Wie bereits in Berlin fragte ich mich auch nun wieder, was ich überhaupt hier tat. War ich vielleicht ständig auf der Flucht und hatte es versäumt mein Leben in Ordnung zu bringen? Waren die Reisen auf eigene Faust nur ein Vorwand um davonlaufen zu können? War das vermeintliche Abenteuer nur ein geschicktes Ablenkungsmanöver, damit ich mich nicht mit meinem Leben auseinanderzusetzen brauchte? In diesem Moment hatte ich eine Erkenntnis. Schlagartig wurde mir klar, dass ich nicht mehr die Kraft hatte, das ohnehin schon langsame Tempo meiner Freunde zu halten.
Ich konnte kaum noch gehen, hatte Schmerzen am ganzen Körper und war depressiv wie lange nicht mehr. Was war das bloß für eine Teufelei, die sich da meines Körpers bemächtigt hatte? Ich dachte
zurück an meinen Ärztemarathon, den ich in den letzten drei Jahren absolviert hatte. Allgemeinmediziner, Orthopäde, Unfallchirurg, Homöopath, Nuklearmediziner, Neurologe, Tropenarzt,
Chiropraktiker. Bei all jenen und vielen weiteren war ich gewesen. Sie alle hatten eines gemeinsam. Keiner von ihnen hatte eine Erklärung für die chronischen Schmerzen, die mich nun schon seit
drei Jahren begleiteten.
Als ich am nächsten Morgen aufwachte, war mir schlagartig klar was jetzt zu tun war. Der Plan wäre gewesen, mit dem Zug von Kopenhagen hinüber ins schwedische Malmö zu fahren. Von dort wollten wir die schwedische Westküste bis Göteborg hinauf radeln.
"Ich fahre jetzt noch mit euch hinüber nach Malmö. Drüben in Schweden werde ich euch eurem Schicksal überlassen." eröffnete ich Patrick und Isa beim Frühstück.
In den Gesichtern meiner Freunde spiegelten sich Fassungslosigkeit und Entsetzen. “Ist das jetzt dein Ernst?" fragte Isa. Patrick schüttelte nur ungläubig den Kopf. "Du machst mich fertig Alter.
Auf den Schock brauche ich sofort eine Zigarette.“ Resigniert zuckte ich mit den Schultern. „Ich habe nicht mehr die Kraft dafür. Ab jetzt ist es eure Tour.“ Keiner sagte ein Wort während wir die
letzten Kilometer, zum Bahnhof nach Kopenhagen hinein radelten. Um hinüber nach Schweden zu gelangen mussten wir die Öresundbrücke überqueren. Diese Brückenkonstruktion war fast acht Kilometer
lang, autobahnartig ausgebaut und für Radfahrer unpassierbar. Daher luden wir unsere Räder in den Zug und gelangten so innerhalb kurzer Zeit hinüber nach Schweden. In Malmö tranken wir einen
letzten gemeinsamen Kaffee, bevor es Zeit wurde von einander Abschied zu nehmen.
„Und wieder zerfällt die Gemeinschaft. Es ist genau das gleiche wie vor drei Jahren.“ sagte Patrick. „Was wirst du jetzt machen?" fragte er weiter. "Erst einmal aus der Stadt fahren und nachdenken." murmelte ich. "Bringen wir es also hinter uns, bevor ich es mir noch anders überlege." Patrick nickte. "Du wirst deinen Weg gehen. Ich finde es zwar schade dass du nicht mehr mitkommst, aber wenn das deine Entscheidung ist, werde ich dich nicht aufhalten." Wir umarmten uns zum Abschied. Ohne mich noch einmal umzudrehen, verschwand ich in den Straßen Malmös.
Malmö ist mit seinen 300.000 Einwohnern die Hauptstadt der historischen Provinz Schonen, sowie die drittgrößte Stadt Schwedens. Die Wirtschaft der Stadt, welche in den den 90er Jahren komplett daniederlag, hat sich durch den Bau der Öresundbrücke wieder einigermaßen erholt. 42 % der Einwohner Malmös haben Migrationshintergrund. Im berüchtigten Stadtteil Rosengård, wo auch Zlatan Ibrahimovic aufwuchs, sollen es sogar 85 % sein. Während ich Malmö mit ungewissem Ziel nach Süden verließ, radelten Patrick und Isa nordwärts. Wie eine Maschine, ohne Nachzudenken, suchte ich mir meinen Weg. Auf verschiedenen Radwegen ging es durch die Vorstädte. Als das Stadtgebiet endlich zu Ende war, dehnte sich die trostlose Agrarlandschaft Südschwedens vor mir aus. Mein Weg streifte viele kleine Orte, einer schmuckloser und unscheinbarer als der andere. Die Namen habe ich längst vergessen. Dazwischen erstreckten sich endlose Felder, nirgends gab es Wald zum Zelten. Doch der Wind war an diesem Tag mein Verbündeter und so ritt ich mit Leichtigkeit über das flache Land. Es war Sonntag und so herrschte kaum Verkehr.
Gegen Abend erreichte ich die Stadt Trelleborg wo ich auf einen anderen Radfahrer stieß. Jesper war in die entgegengesetzt Richtung unterwegs. "Du sprichst gut Englisch." sagte der junge Schwede
und nickte anerkennend. "Ich habe mit dem Einrad schon halb Europa durchquert und weiß daher, dass das keine Selbstverständlichkeit ist. In Deutschland sprach von den älteren Leuten kaum jemand
Englisch." Ich nickte. "Das glaube ich dir sofort. Bei uns in Österreich ist das ähnlich." Jesper schüttelte den Kopf. "In Frankreich war es am schlimmsten. Spanien war ein bisschen besser, aber
nicht sehr viel. Die Holländer können gut Englisch, die waren immer ganz aus dem Häuschen wenn ich mit meinem Einrad dahergekommen bin. Naja, ich muss jetzt los, mein Couchsurfing Host erwartet
mich." Sprachs, und ehe ich mich versah, stand ich wieder alleine auf der Straße. An diesem Abend musste ich noch ziemlich weit fahren. Südschweden war dicht besiedelt und Wildzelten richtig
schwierig. Was nützte mir das Jedermannsrecht, wenn die Landschaft lediglich aus Agrarflächen bestand? Irgendwann hatte ich genug und baute auf einem öffentlichem Strand mein Zelt auf.
In jener Nacht brachte ich kein Auge zu und nur mit Mühe konnte ich die Dämonen in meinem Kopf unter Kontrolle bringen. Es hätte wohl nicht viel gefehlt und ich wäre aufs Rad gestiegen und meinen Freunden hinterhergejagt. Um fünf Uhr Morgens saß ich bereits wieder auf dem Rad und sauste in der Morgendämmerung die Hügel Richtung Ystad hinauf und hinunter. In der Stadt angekommen, kehrte ich in die erstbeste Bäckerei ein. Dort versuchte ich mich zu beruhigen und die seelischen Blutungen mit Kaffee in den Griff zu bekommen. Schweden besaß wieder eine andere Kaffeekultur als Dänemark. Hier musste man nur einmal bezahlen und konnte sich dann sooft Filterkaffee nachgießen, wie man sich und seinem Magen zumuten mochte.
Doch wie sollte es jetzt weitergehen? Ich beschloss fürs erste der schwedischen Ostseeküste zu folgen. Während ich in der Bäckerei saß und meine Karte studierte, machte ich eine Entdeckung. In
Ystad gab es einen Fährhafen. Auf meiner Karte war eine Schiffsverbindung eingezeichnet, mit der man zu einer kleinen Insel namens Bornholm gelangen konnte. Obwohl ich nie zuvor von jener Insel
gehört und keinen Dunst hatte was mich dort erwarten würde, kaufte ich kurz entschlossen ein Ticket.
So hoffte ich der Trostlosigkeit Südschwedens fürs erste zu entfliehen und wieder neue Gedanken fassen zu können. Es dauerte jedoch eine ganze Weile bis das Schiff endlich auslaufen konnte.
Außerdem war ein riesiges Polizeiaufgebot mit an Bord. "Diese verflixten Polizisten halten alles auf!" knurrte eine alte Bornholmerin hinter mir. "Was wollen die denn auf der Insel?„ fragte ich
verwundert. Die Alte verzog das Gesicht. "Ach, das ist alles wegen dieses verdammten Holländers. Diesem Rechtspopulisten, wie war noch sein Name?“ „Meinen Sie etwa Gert Wilders?" schlug ich vor.
"Ja genau den meine ich. Anscheinend hält der Kerl irgendwo eine Rede. Kannst dir ja vorstellen, welche Art von Leuten das anlockt. Deshalb auch das Polizeiaufgebot. Was das wieder alles kostet."
Die Alte schüttelte wütend den Kopf.
Auf der Fähre kam ich mit einer Radfahrerin aus München ins Gespräch. „Warst du auch schon öfter in Skandinavien?“ fragte sie mich, nachdem wir uns ein wenig unterhalten hatten. „Nein, ist mein
erstes Mal.“ Sie nickte. „Bornholm wird dir bestimmt gefallen. Ich bin schon öfter mit dem Fahrrad in Südschweden und Dänemark unterwegs gewesen. Doch vor zwei Jahren bin ich bei einer Abfahrt
schwer gestürzt und habe mir das Bein gebrochen. Gottseidank hatte ich eine Rückholversicherung. Jetzt fange ich langsam wieder mit dem Radfahren an.“ Ich schluckte. „Puh, das klingt wirklich
übel. Wenigstens hast du dir keine nachhaltigen Schäden zugezogen.“ „Das stimmt, ich hatte wirklich Glück.“ pflichtete sie mir bei. „Was ist mit dir, hast du auch eine Rückholversicherung?"
Ich kratzte mich verlegen am Kopf. "Wenn ich ehrlich bin habe ich im Moment überhaupt keine Krankenversicherung."
Es dauerte nicht lange und die Umrisse von Bornholm tauchten im Dunst des Meeres auf. Als die Fähre endlich in der Inselhauptstadt Rønne vor Anker ging, suchte ich gleich das Touristenbüro auf. Da es den Plan hierher zu kommen nie gegeben hatte, war ich weder über die Insel selbst, noch über etwaige Radwege oder ähnliches informiert. Im Touristenbüro bekam ich eine grobe Übersichtskarte in die Hand gedrückt. Auf dieser waren sämtliche Radrouten der Insel eingezeichnet. Bevor es endlich losgehen konnte, suchte ich noch ein Fahrradgeschäft auf. Die Schaltung reagierte nicht mehr so präzise wie zu Beginn der Tour, sonst lief der Esel immer noch einwandfrei. Jener Mechaniker war ein echter Fuchs. Er hatte nicht nur im Null Komma Nichts die Schaltung eingestellt, sondern gleich noch einen leichten Achter im Hinterrad beseitigt. „Sieht gut aus dein Fahrrad, da wirst du noch lange Freude dran haben.“ nickte er anerkennend.
Geld wollte der nette Kerl keines nehmen. Ich protestierte. “Hier hast du trotzdem fünfzig Kronen. Kauf dir ein Bier falls sich das überhaupt ausgeht." Er grinste zufrieden. "Doch, hier geht sich
das aus. In Schweden könnte es aber schon eng werden. Warst du schon einmal in Norwegen? Ich sage dir, die haben richtig Geld. Ab und zu haben wir hier norwegische Touristen. Für die ist unsere
Insel das reinste Shoppingparadies. Was die alles einkaufen, das kannst du dir nicht vorstellen. Es kommen auch viele Touristen aus Deutschland und Polen, denn auch von dort gibt es
Fährverbindungen.“ Er spielte lässig mit dem Werkzeug in seiner Hand. „Meine Eltern waren Einwanderer aus Italien, aber ich bin bereits hier auf Bornholm geboren. Falls du zelten willst, radelst
du am besten nordwärts aus der Stadt Richtung Hasle. Du folgst einfach dem Radweg, dann solltest du irgendwann ein Waldgebiet erreichen. Dort gibt es einem Shelter, wo du die Nacht
verbringen kannst." Nachdem ich mich noch einmal ausgiebig bedankt hatte, setzte ich meinen Weg fort.
Wenige Kilometer später erreichte ich tatsächlich das Waldgebiet, von dem der Mechaniker gesprochen hatte. Nach kurzer Suche gelang es mir auch den Shelter ausfindig zu machen. Dabei handelte es sich um eine wunderschöne Holzkonstruktion, die direkt am Meer lag. Über einen schmalen Pfad gelangte ich hinunter zu einem wunderschönen Sandstrand. Als ich gerade meine Jause ausgepackt hatte, kam plötzlich ein Sandler vorbei geschlendert. "Sorry aber ich verstehe dich nicht." erwiderte ich, als mich der Kerl auf dänisch anredete. Zu meiner Verwunderung wechselte er sofort in ein nahezu perfektes Englisch. "Du kannst ruhig hier drin schlafen." sagte ich und deutete auf den Shelter. "Ich werde dort drüben im Wald mein Zelt abstellen." Der Kerl winkte ab. "Ist viel zu windig. Diese Deppen haben ihn genau in die falsche Richtung gebaut.“ sagte er, während er hinter dem Unterstand seine Isomatte ausrollte.
„Gut dass Patrick nicht hier ist.“ dachte ich grinsend. „Der würde sich schon wieder ärgern, dass sogar ein Landstreicher besser Englisch spricht als er.“ Im Zelt blätterte ich noch ein wenig in einer Infobroschüre, die ich im Touristenbüro mitgenommen hatte. Bornholm ist die östlichste Insel Dänemarks. Auf ihr leben etwa 40.000 Menschen die teilweise Bornholmsk, einen schonischen Dialekt sprechen. Auf der Insel liegt mit dem Almindingen das zweitgrößte zusammenhängende Waldgebiet Dänemarks. Geologisch gehört Bornholm allerdings zu Südschweden, da seine Landmasse überwiegend aus Gneisen und Graniten besteht.
Am nächsten Tag machte ich mich daran die Insel zu erforschen. Bornholm verfügte über ein gut ausgebautes Netzwerk an Radwegen, mit einer Gesamtlänge von etwa 230 Kilometern. Die Radwege waren durchgängig mit Rot-Grünen Tafeln ausgeschildert. Auf meinem Weg über die Insel passierte ich die Helligdoms-Klippen und bestaunte die Burgruine Hammershus, die älteste Festung Nordeuropas. Viele Sehenswürdigkeiten waren entlang des Radweges aufgefädelt wie Perlen auf einer Schnur. Wie überall in Dänemark gab es auch auf Bornholm sogenannte „primitive campgrounds“. Diese Naturlagerplätze waren gegen einen kleinen Obolus für Jedermann nutzbar. Sie verfügten meist über fließendes Wasser und sanitäre Anlagen.
An jenem Abend residierte ich an einem malerischen Platz direkt neben einem Bauernhof. Er lag auf einer Waldlichtung, die von einem kleinem Bach umflossen wurde. Aus dem naheliegenden Forst duftete es nach Bärlauch. Das Wetter war mir hold und die Sonne leuchtete aus einem marineblauen Himmel. Anscheinend ist Bornholm die sonnenreichste Insel in der gesamten Ostsee. Die Temperaturen waren jedoch auch im Juni noch verhältnismäßig kühl
Auf meinem Weg über die Insel passierte ich aufgelassene Granitsteinbrüche, radelte durch ausgedehnte Wälder und kletterte auf den zerklüfteten Felsen der Küste umher. An meinem letzten Abend auf Bornholm campte ich neben einem Weingut. “Wein an der Ostsee? Wusste gar nicht dass es sowas gibt.“ dachte ich verwundert. „Existieren noch mehr Weingärten auf Bornholm?" fragte ich Jesper Paulsen, den Inhaber des Weinguts „Lille Gadegård“. "Nein es gibt nur mich." grinste der Bornholmer mit schlohweißem Haar. "Ich bin der verrückte Kerl von dem hier alle sprechen. Früher haben wir hier Johannisbeer-, Stachelbeer- und Erdbeerwein gekeltert. Erst im Jahr 2000 hat Dänemark von der EU die Erlaubnis bekommen Wein anzubauen. Darauf habe ich angefangen auch mit Trauben zu experimentieren. Mittlerweile gibt es etwa vierzig Weinbauern in Dänemark. Von denen lebt allerdings kaum einer ausschließlich vom Weinanbau.“ Er führte mich durch seinen kleinen Hofladen. „Falls du etwas mitnehmen möchtest, kann ich dir diesen Honigschnaps empfehlen.“ Er griff nach einer länglichen Flasche mit glasklarer Flüssigkeit. „Dieser „Honning Syp“ ist typisch für Bornholm. Nicht für Dänemark!“ Er hob den Zeigefinger um diese Aussage zu unterstreichen. "Wir trinken ihn vor allem zu geräuchertem Fisch. Früher gab es zahlreiche Heringsräuchereien auf Bornholm. Seit dem Niedergang der Fischindustrie sind jedoch nur mehr ein paar davon in Betrieb. Auch Bornholm ist udkantsdanmark.“
Am nächsten Tag befand ich mich bereits auf den Rückweg nach Rønne. Dem netten Weinbauern hatte ich noch eine Flasche Honning Syp abgekauft, die sicher in meinem Gepäck verstaut war. Ich hatte
sowieso vor einige Sachen heimzuschicken, da kam es auf eine Flasche Schnaps mehr auch nicht an. "Wo finde ich den hier die Post?" fragte ich einen Passanten, als ich wieder in der Stadt
angekommen war. "Du bist ziemlich nah dran." lachte dieser. „Siehst du den Supermarkt da grüben? Dort wirst du fündig. Willkommen auf Bornholm!" "Schade dass ich schon wieder abreise." dachte ich
wehmütig. Die Insel und ihre Bewohner waren mir in den paar Tagen richtig ans Herz gewachsen.
Als ich auf der Post mein Paket aufgeben wollte, erlebte ich eine böse Überraschung. Der Versand nach Österreich hätte fast neunzig Euro gekostet! "Danke, aber in dem Fall kaufe ich nur den
Karton.“ sagte ich zu der Dame am Schalter. Nun musste ich Gas geben um die Fähre noch zu erreichen. Mit dem sperrigen Paket auf dem Gepäckträger, eierte ich das Kopfsteinpflaster hinunter zum
Hafen. Gottseidank ging die Überfahrt dieses Mal schneller vonstatten und bereits am frühen Nachmittag befand ich mich wieder in Ystad auf dem schwedischen Festland.
In Ystad angekommen, machte ich mich gleich auf den Weg zum Postamt. Hier konnte ich endlich das lästige Paket loswerden. In Schweden war der Versand immerhin um die Hälfte billiger als auf Bornholm. Die historische Provinz Schonen, welche nun vor mir lag, hatte bis ins 17. Jahrhundert zur Dänischen Krone gehört. Es war eine flache bis leicht hügelige Landschaft, mit schweren und nährstoffreichen Tonböden. Über 30 Prozent des schwedischen Bedarfs an Agrarmitteln werden in Schonen angebaut. Den ganzen Tag ging es auf einsamen Straßen durch endlose Felder. Die Sonne leuchtete dem wolkenlosen Himmel als wollte sie die triste Gegend lieblicher erscheinen lassen. Die südschwedischen Dörfer entpuppten sich als gottverlassene Orte. So etwas wie Ortskerne gab es nicht, die Straßen waren menschenleer und die Häuser wirkten wie planlos in die Lanschaft geworfen. Doch immerhin waren die Verkehrswege in gutem Zustand und auch der Verkehr selbst kaum der Rede wert. An jenem Abend bemerkte ich erstmals, dass mit meinem rechten Fuß etwas nicht in Ordnung war. Bei jedem Tritt verspürte ich heftige Schmerzen vom Sprunggelenk bis in den Unterschenkel. Gottseidank erreichte ich wenig später einen idyllischen Sandstrand, in dessen Dünen ich mein Zelt aufstellen konnte. "Ich werde es morgen wieder in den Sandalen versuchen." dachte ich mir, und verstaute die schweren Lederstiefel in den Tiefen meiner Radtaschen.
Nachdem ich in den warmen Dünen gut geschlafen hatte, wurde ich am nächsten Morgen durch die Schüsse einer nahen Militärbasis geweckt. Verschlafen linste ich aus dem Zelt und machte mich an die Weiterfahrt. Am Abend des zweiten Tags stieß ich endlich auf die ersten größerne Waldgebiete. Diese wechselten sich mit ausgedehnten Wiesen ab, auf denen das Gras meterhoch stand. Der Ostseeküstenradweg hatte mit den Radwegen im deutschsprachigen Raum überhaupt nichts gemeinsam. Von einem echten Radweg konnte man hier nicht sprechen da, die Wegführung fast ausschließlich auf Straßen verlief. Straßenbegleitende Radstreifen fanden sich gelegentlich in Städten und neben machen stärker befahrenen Straßen. Da der Untergrund ausschließlich aus Asphalt bestand, kam ich sehr schnell vorwärts und häufig flog die Landschaft nur so an mir vorbei. Eine Beschilderung war zwar gelegentlich vorhanden, verlassen konnte man sich allerdings nicht darauf. Vernünftiges Kartenmaterial oder zumindest ein GPS Track, sind für den Ostseeküstenradweg unumgänglich.
Unter den südschwedischen Städten fanden sich kaum Schmuckstücke. Wenn ich nicht gerad einkaufen musste, versuchte ich die Zivilisation zu meiden so gut es eben ging. Leider war auch die Landschaft abseits der Städte relativ unspektakulär. Doch trotz dieser Wermutstropfen machte das Radfahren Spaß. Die schwedischen Autofahrer stellten sich als äußerst rücksichtsvoll heraus. Wie hier auf Radfahrer geachtet wurde war schlichtweg vorbildlich. Gab es keine Möglichkeit sicher zu überholen, zuckelten manche Autos minutenlang geduldig hinter mir her bis sich eine geeignete Möglichkeit bot. Mittlerweile war es auch mit der Zeltplatzsuche einfacher geworden. Zwischen den Feldern lagen nun immer wieder größere Waldgebiete. Allerdings hatten auch diese ihre Tücken. Der erste Wald den ich bei meiner Zeltplatzsuche in Augenschein nahm, war uneben, verwachsen und voller Moskitos. Irgendwann fand ich schließlich eine ebene Fläche, die Mücken waren jedoch allgegenwärtig. Im Zelt musste ich dann noch ein Dutzend Zecken eliminieren, das sich überall auf meiner Kleidung tummelte.
Blekinge, die zweite historische Provinz, begrüßte mich mit leichten Hügeln. Die Küsten waren weitgehend schroff, mit vorgelagerten Schärengärten. Bald darauf verschwanden die Felder fast vollständig und wurden von Wiesen und Wäldern abgelöst. An einem Rastplatz kam ich mit einem altem Motorradfahrer ins Gespräch. „Das wichtigste ist auf kleinen Straßen wie dieser zu bleiben und immer wieder anzuhalten." wies mich der alte Mann ein. "Wenn du immer nur den kürzesten Weg wählst, bekommst du von der Landschaft nichts mit.“ Er zupfte an seinem weißen Schnurrbart und starrte in die Ferne. „Morgen wirst du Karlskrona erreichen.“ fuhr er schließlich fort. „Diese Hafenstadt ist auf 30 Inseln erbaut und war einst eine der größten Städte des Landes. Dort befindet sich auch der Hauptstützpunkt der schwedischen Kriegsmarine.“
Am nächsten Morgen durchquerte ich die Schären von Karlskrona. Die Stadt selbst lag etwas abseits des Ostseeküstenradwegs und war nur über einen kleinen Umweg zu erreichen. An jenem Sonntag lag das Zentrum wie ausgestorben vor mir. Auf dem großen Platz neben der gelben Kirche, herrschte gähnende Leere. So hatte ich mir meinen Besuch nicht vorgestellt und ich kehrte erst einmal im örtlichen Kaffeehaus ein. Gedankenverloren saß ich an meinem Tisch und starrte in den diesigen Raum. Da erreichte mich plötzlich ein Email von Patrick. „Wir sind gerade in Göteborg eingetroffen. Auf unserem Weg entlang der Westküste sind wir dem Kattegattleden gefolgt. Das ist ein neuer Radweg, der im Sommer dieses Jahres eröffnet werden soll. Gottseidank war die Route bereits ausgeschildert. Wir bleiben jetzt zwei Tage in Göteborg und setzen dann mit der Fähre nach Frederikshavn über.“ Ich schaute mir die Route meiner Freunde auf der Karte an und plante gleichzeitig weiter an meiner eigenen. Dabei machte ich die Entdeckung, dass zwei weitere Ostseeinseln mehr oder weniger auf meinem Weg lagen. Da es mir auf Bornholm sehr gut gefallen hatte, beschloss ich auch die schwedischen Inseln mit einem Besuch zu ehren.
Doch erst einmal folgte ich dem Ostseeküstenradweg weiter Richtung Norden. Es ging entlang einsamer Straßen durch lichte Nadelwälder. Der Boden wurde immer wieder von gewaltigen Felsformationen durchzogen, welche zentimeterdick von Flechten und Moos bedeckt waren. Auch einige flachwurzelnde Nadelbäume schafften es auf dem Fels zu wachsen. Durch die verhältnismäßig warmen Temperaturen war mein Wasserbedarf enorm. Schon bald fand ich heraus, dass die schwedischen Friedhöfe zuverlässige Trinkwasserquellen waren. An wirklich jedem Friedhof gab es eine Wasserleitung, wo ich meine Flaschen auffüllen konnte. Hunger musste ich auch keinen leiden. Nach wie vor kaute ich an jenem Speck, den ich vor über zwei Wochen in Rostock gekauft hatte. Die verflixten Zecken waren allgegenwärtig bei der Lagersuche in den Wäldern. Die Parasiten bissen sich überall an meinem Körper fest. Ob zwischen meinen Fingern oder in den Kniekehlen, nichts war vor ihnen sicher. Es fanden sich der gemeine Holzbock und eine weitere große Zeckenart, die ich bis dahin nur an Katzen oder Igeln gesehen hatte.
Am darauf folgenden Tag erreichte ich abgekämpft und müde, die Provinzhauptstadt Kalmar. Von dort verkehrte eine Fähre zur schwedischen Insel Öland, die nun mein nächstes Ziel war. Im Touristenbüro von Kalmar erstand ich eine Karte. Auf dieser war auch der Ölandsleden eingezeichnet, ein Radweg, der über die ganze Insel zu verlaufen schien. Eine Stunde später überquerte ich mit einem kleinen Fährboot den Kalmarsund. Dabei handelt es sich um eine schmale Meerenge, welche die Insel vom Festland trennt. Zwar ist die Stadt Kalmar auch durch eine Brücke mit Öland verbunden, diese kann mit dem Fahrrad allerdings nicht überquert werden. Auf der Insel angekommen beschloss ich zuerst die Südhälfte zu erkunden. Am jenem ersten Tag kam ich allerdings nicht mehr besonders weit. Nach ein paar Kilometern Fahrt stieß ich durch Zufall auf einen Unterstand. Müde und zufrieden stellte ich unmittelbar daneben mein Lager auf.
Öland befand sich lange Zeit unter dem Meeresspiegel, bis es schließlich an die Oberfläche gelangte und zur zweitgrößten Insel Schwedens wurde. Bereits 7.000 Jahre vor Christus siedelten die ersten Menschen auf der Insel. Unzählige archäologische Funde sind stille Zeitzeugen der weit zurückreichenden Siedlungsgeschichte. Im vierzehnten Jahrhundert gelangte die Insel erstmals in den Besitz der schwedischen Krone. Im neunzehnten Jahrhundert lebten etwa 38.000 Menschen auf der Insel. In Folge einer schweren Agrarkrise verließen jedoch viele Öländer ihre Heimat und wanderten nach Amerika aus. Heute liegt die Einwohnerzahl bei 25.000, ist jedoch nach wie vor rückläufig. Die Landwirtschaft spielt neben dem Tourismus auch heute noch die wichtigste Rolle in der Wirtschaft Ölands. Die Industrie ist nach dem Rückgang des Kalksteinabbaus im Norden der Insel kaum noch von Bedeutung.
Die südliche Hälfte Ölands stellte sich als ziemlich trostlose Gegend heraus. Zwischen der Küste und dem Hochplateau erstreckten sich weitläufig Getreide- und Kartoffelfelder. Abseits der Felder sah die Landschaft, mit ihren kleinen, vom Wind gebeutelten Bäumen und den wiegenden Gräsern, beinahe wie eine Steppe aus. Die Orte waren ruhig und menschenleer, auch auf den Straßen herrschte kaum Verkehr. Gegen heftige Windböen kämpfte ich mich hinunter bis zur Südspitze der Insel. Auf dem Weg dorthin passierte ich Steinmauern und alte Gräberfelder, bis ich schließlich das Naturreservat Ottenby erreichte. Unzählige Schafe und Rinder weideten zwischen den windgegeißelten Bäumen, in einer flachen Graslandschaft. Die Straße folgte der steinigen Küste bis zum südlichsten Punkt der Insel, wo sie an einem Leuchtturm endete. Dort gab es unter anderem ein kleines Café in dem ich unmittelbar in Deckung ging. Draußen war der Wind so stark, dass er fortblies was nicht fest genug angebunden war. Doch trotz ihrer Unwirtlichkeit wohnte der Landschaft ein mächtiger Zauber inne.
Am selben Tag bestiegen meine Freunde die Fähre nach Island. Währenddessen saß ich alleine auf einer Insel, von deren Existenz ich bis vor kurzem nicht einmal gewusst hatte. Als es Abend wurde, stieß ich das erste Mal ins Alvaret, das goldenem Herz der Insel vor. Dabei handelte es sich um eine alte Kulturlandschaft. Ausgedorrte Gräser, windschiefe Bäume und alte Kalksteinmauern, soweit das Auge reichte. Während ich zwischen den Viehweiden nach einem Lager suchte, stieß ich plötzlich auf einen offiziellen Shelterplatz. Leider waren diese Orte auf meiner Karte nicht eingezeichnet, ich hatte also die letzten beiden Tage ziemliches Glück gehabt. Das Hochplateau von Öland war ebenso schön wie bizarr. Die Felsen formten Stufen und Terrassen, die aussahen wie dem Verfall preisgegebener Zement. Auf den Steinen leuchteten zahlreiche bunte Flechten und zwischen den alten Mauern grasten Herden von Rindern die aussahen, als wären sie schon seit Anbeginn der Zeit hier.
Insgesamt drei Mal stieß ich auf verschiedenen Wegen ins innere Alvaret vor. Beim dritten Mal erwischte ich eine üble Piste, für die eigentlich ein Downhillbike das angemessenste Fortbewegungsmittel gewesen wäre. Mit meinem vollbeladenen Esel eierte ich über dezimeterhohe Stufen von Geröll und zerklüftetem Fels. Als ich endlich wieder Asphalt unter den Reifen hatte, war ich bereits auf der Nordhälfte von Öland angekommen. Die Landschaft bestand nun wieder vorwiegend aus Feldern mit Wald dazwischen. Auf den Straßen, die mich der Ölandsleden entlang lotste, herrschte bis auf ein paar Traktoren kaum Verkehr. Die Insel war so verlassen, dass ich erst am dritten Tag nach meiner Ankunft eine Gelegenheit zum Einkaufen fand. Der Supermarkt in der Inselhauptstadt Borgholm war zum Bersten voll. An der Kasse stand ich hinter einem dicken blonden Wiener, den ich sofort am Dialekt erkannt hatte. „Na, ich habs da ja gsagt, urstressig is heut. Weil Mitsommer is weist, da drehns alle durch.“ lallte der Kerl in sein Telefon. „Mitsommerfest, natürlich.“ dachte ich mir. „Daher also die ganzen Leute.“
Von der Sonne war allerdings schon lange nichts mehr zu sehen, das Gegenteil war vielmehr der Fall. Dunstige Wolken bedeckten zusehends den Himmel. Ich schaffte es gerade noch aus der Stadt hinaus und zurück in die Wildnis zu flüchten, als es auch schon wie aus Kübeln zu schütten begann. Unter einem überdachten Aussichtsturm versuchte ich den Regen auszusitzen. Nach zwei Stunden begann es dann allerdings durchs Dach zu tropfen und ich baute schleunigst daneben mein Zelt auf.
Am nächsten Morgen hatte der Himmel seine Schleusen wieder geschlossen und erfreulicherweise konnte ich sogar das Zelt trocken einpacken. Mein Weg führte mich nun in die kleine Hafenstadt Byxelkrok, das regionale Zentrum Nordölands. Der Weg dorthin sollte allerdings kein leichter werden. Der Ölandsleden führte nun unmittelbar an der Küste entlang. Allerdings war er nicht asphaltiert und es regnete in Strömen, während ich mich auf dem Schlammweg die malerische Küste entlang kämpfte. Hier lagen auch die Steinbrüche, welche das Baumaterial für die Häuser und Steinmauern im Süden der Insel lieferten. In der alten Zeit wurde der Kalkstein abgebaut, indem man Holzkeile in die Risse im Fels trieb. Anschließend wurden diese durch Feuchtigkeit zum Quellen gebracht, wodurch der Stein entzwei sprang. Später wurde diese Arbeit von Maschinen erledigt, die nun traurig im Regen vor sich hin rosteten. Als die Kalksteinbrüche hinter mir lagen, trat der Weg in einen dichten Wald ein. Auf kleinen verschlungenen Pfaden lenkte ich mein Rad durch meterhohe Farne, die im Dunst des Regens vor sich hin dampften.
Am späten Nachmittag, kam ich schließlich im Hafen von Byxelkrok an. Dieser kleine Ort bestand lediglich aus ein paar roten Barracken. Der Wind heulte durch die Straßen und es war alles andere als gemütlich. In einer Hafenkneipe suchte ich Deckung vor dem Sturm. Meine Freunde waren währenddessen auf Island angekommen. Auf den Fotos die sie mir geschickt hatten, schimmerten weiße Schneefelder und hohe Berge. „Da habe ich es hier ja noch gut erwischt.“ dachte ich fröstelnd, während ich mir die Bilder ansah. Auf der Fähre zurück aufs Festland, war ich an diesem Tag der einzige Passagier. Seit dem Bau der Brücke bei Kalmar scheint sie wohl keine große Rolle mehr zu spielen. Müde starrte ich auf die windgepeitschte See, die draußen an mir vorbeizog. Das Radfahren auf Öland hatte großen Spaß gemacht. Der Radweg war gut ausgeschildert, und dank der Karte aus der Touristenbüro fast nicht zu verfehlen gewesen. Kaum war ich im Hafen von Oskarshamn von Bord gegangen, betrat ich bereits das nächste Fährschiff. Dieses sollte mich auf die letzte Insel meiner Reise bringen. Die größte schwedische Insel - Gotland.
Als das Fährschiff auf Gotland ankam, war es bereits weit nach Mitternacht. Die Straßen der alten Hansestadt Visby wurden von Laternen erleuchtet und lagen wie ausgestorben vor mir. Ich orientierte mich kurz und steuerte dann gleich den städtischen Campingplatz an. Gottseidank hatte die touristische Hauptsaison noch nicht begonnen und der Platz war nicht überfüllt. Als die Sonne aufging, schwang ich mich auf mein Fahrrad und machte mich auf den Weg in die Stadt. Visby die Hauptstadt Gotlands, ist bekannt für ihr schönes, geradezu mittelalterlich anmutendes Stadtbild. Verschnörkelte kleine Gassen durchziehen die Altstadt, welche von einer kilometerlangen Stadtmauer eingefasst wird. Ich brauchte unbedingt eine neue Sattelklemme für mein Fahrrad. Schon seit Beginn der Reise rutschte der Sitz immer wieder ins Rohr hinein, was mein Körper mit heftigen Knieschmerzen quittierte.
Leider dauerte das Mitsommerfest immer noch an und die Geschäfte hatten für die nächsten beiden Tage geschlossen. „Hoffentlich hat das Touristenbüro nicht auch zu.“ ging es mir durch den Kopf, während ich mein Rad quer über die Kopfsteinpflaster der Altstadt scheuchte. Dankenswerterweise hatte das Büro seine Pforten geöffnet und ich ergatterte gleich eine kostenlose Karte Gotlands. Darauf war auch der Gotlandsleden eingezeichnet, ein Radweg, der mit einer Länge von etwa 500 Kilometern einmal rund um die Insel führte. Als ich Visby am späten Nachmittag verließ, folgte ich dem Gotlandsleden nördlich aus der Stadt, um die Insel im Uhrzeigersinn zu umrunden.
Der Weg führte zuerst am Meer entlang, vorbei an Ferienwohnungen und Campingplätzen, bis er unvermittelt zu Ende war. Rechts führte die Straße über einen Hügel ins Landesinnere, links ging der asphaltierte Weg dem ich bis jetzt gefolgt war, in einen unbefestigten Pfad über. Da keine Abzweigung ausgeschildert war, beschloss ich vorerst an der Küste zu bleiben. Doch bald schon dämmerte mir, dass ich auf dem Holzweg sein musste. Der kleine Pfad war stark verwachsen, zudem holprig und führte durch Schlamm und Dornenbüsche, bis er schließlich am Meer endete. Zu Fuß hätte ich schon noch weiter gekonnt, dazu hätte ich allerdings das Rad eine steile Böschung hinauf zerren müssen. Als ich gerade dabei war umzukehren kamen mir zwei Schweden auf Mountainbikes entgegen. „Das ist doch wohl nicht wirklich ein Radweg hier?“ fragte ich die beiden fassungslos. „Mit deinem Rad ist es zugegebenermaßen etwas mühsam.“ grinste einer der Kerle und machte sich daran sein Mountain Bike durch das vor uns liegende Dornengestrüpp zu zerren.
„Die spinnen doch alle völlig.“ dachte ich mir, während ich mein Rad zurück auf die Straße schob. Fast wäre mir der vollbeladene Gaul dabei die Böschung hinunter ins Meer gesaust. Beim Versuch ihn abzufangen, büßte ich noch ein Stück meines rechten Zehennagels ein. Oben an der Straße begann es dann auch noch in Strömen zu regnen. Zwei Stunden kauerte ich in einer Bushütte und versuchte erfolglos den Guss auszusitzen. Schließlich setzte ich meinen Weg fort, oder versuchte es zumindest. Wo der Radweg verlief, konnte ich auf meiner Karte gerade noch erkennen. Leider waren die Abzweigungen nur in den seltensten Fällen ausgeschildert. Ohne Karte wäre es wohl ein ziemliches Desaster gewesen. Ich eierte noch ein paar Kilometer über schlammige, vom Regen aufgeweichte Feldwege, bis ich schließlich entnervt und müde, mein Zelt direkt neben den Weg stellte.
Gotland ist die größte Insel Schwedens und besteht zu weiten Teilen aus Kalksteinplateau. An ihrer höchsten Stelle erhebt sich die Landmasse 82 Meter über den Meeresspiegel. Durch die Kalkbrennerei wurden weite Teile der Insel bereits vor langer Zeit entwaldet. Dennoch ist Gotland bekannt für seine artenreiche Naturlandschaft. Bereits vor 8.000 Jahren siedelten die ersten Menschen auf der Insel. Steinhügelgräber, Runensteine und Menhire sind stille Zeitzeugen dieser vergangenen Epoche. Wie viele Teile Südschwedens war auch Gotland ehemals Streitgegenstand zwischen der dänischen und der schwedischen Krone. In der jüngeren Zeit ging seine Bedeutung als wichtiger Handelsknotenpunkt verloren, weil die Buchten für größere Schiffe zu flach waren. Heute ist die Insel wegen ihres milden Klimas, vor allem für die Festlandschweden ein beliebtes Ferienziel.
Am zweiten Tag hatte sich das Wetter deutlich gebessert. Die Straße führte quer über ein großes Kalksteinplateau. Auf dem nackten Stein gediehen große Nadelbäume, bizarr aussehende Moose und kleinere Pflanzen. Nachmittags traf ich erstmals auf einen anderen Radfahrer. „Du bist aber auch kein Schwede oder?“ fragte ich ihn, nachdem wir ein wenig Smalltalk betrieben hatten. „Nein ich bin Slowake und heiße Vladimir.“ stellte sich mein Gegenüber vor. „Dann kommst du ja direkt aus meinem Nachbarland!“ rief ich begeistert. „Bist du von der Slowakei hierher geradelt?“ Vladimir schüttelte den Kopf. „Nein ich arbeite in Schweden als Ingenieur und habe jetzt ein paar Tage Urlaub. Deshalb mache ich mit Rad und Zelt die Insel unsicher.“ Ich nickte. „Sprichst du den schwedisch?“
Vladimir winkte lachend ab. „Nein das brauchst du hier nicht. Fast jeder kann Englisch und die Leute sind auch bereit es anzuwenden. Ich kann dir sagen Steve, das ist nicht überall so. Zuvor habe ich in Frankreich gearbeitet und dort haben sie mir gleich klargemacht dass ich Französisch lernen muss, sonst bräuchte ich gar nicht erst anzutanzen. Dabei ist es keineswegs so dass diese Firmenleute kein Englisch sprechen könnten wenn sie wollten. Wenn du mich fragst, sind sie sich einfach zu gut dafür.“
„Warum bist du eigentlich fortgegangen?“ löcherte ich ihn weiter. „Vladimir wurde ernst. „Wenn man es genau nimmt, bin ich wahrscheinlich ein Wirtschaftsflüchtling. In der Slowakei ist das Leben ziemlich hart geworden. Seit wir den Euro haben, sind die Lebensmittel teilweise teurer als in Österreich und das obwohl die Leute dort viel weniger verdienen. Aber eines muss ich meinen Landsleuten zu gute halten. Sie sind keine Jammerer. Viele sind noch immer sehr leidensfähig durch das Erbe des Kommunismus. Bei den jüngeren lässt das allerdings auch schon nach. Unsere Nachbarn die Tschechen haben es noch ein wenig besser erwischt. Aber auch dort gibt es die gleichen Probleme, vor allem durch die Korruption. Aber lassen wir die Politik, die ist wirklich ein Scheißthema. Wie wirst du jetzt weiterfahren Steve?“
Ich holte meine Karte hervor. „Hier will ich heute noch hin.“ sagte ich und fuhr mit dem Finger auf die kleine Insel Fårö, die gegenüber der Nordspitze Gotlands im Meer lag. Vladimir nickte. „Da will ich auch hin. Aber vorher werde ich noch einmal ein Stück zurück radeln. Der Weg ist so schlecht ausgeschildert, dass ich den ganzen Vormittag falsch gefahren bin. Vielleicht treffen wir uns auf Fårö, würde mich freuen!“ Wir reichten uns zum Abschied die Hand, bevor jeder in eine andere Richtung weiter radelte. Es war bereits Abend, als ich endlich am Fårösund ankam. Die schmale Meerenge trennte die beiden Inseln Gotland und Fårö voneinander. Alle halbe Stunde verkehrte eine Autofähre, die von jedermann kostenlos genutzt werden konnte. Auf der kleinen Insel angekommen, ging es erst einmal eine steile Anhöhe hinauf. Der Weg führte vorbei an Seen und Mooren, bevor er wieder zurück an die Küste kam. An diesem Tag war ich schon weit gefahren und es dämmerte bereits, als ich hinter ein paar Büschen mein Zelt aufstellte.
Am darauf folgenden Morgen folgte ich einer kleinen Straße, die direkt ins Raukengebiet Langhammars führte. Der Weg schlängelte sich über ein steiniges Plateau, das sich zu beiden Seiten weitläufig ausdehnte. Als ich etwa die Hälfte des Weges bewältigt hatte, stiegen plötzlich ein paar weiße Vögel vom Boden auf und schwangen sich in die Luft. Mir blieb kaum noch Zeit einen klaren Gedanken zu fassen, da gingen die Viecher auch schon auf mich los. Ich schaltete in einen höheren Gang und gab meinem Esel die Sporen. Mit Höchstgeschwindigkeit raste ich über das Plateau. Die Schreie der Vögel ließen darauf schließen, dass sie immer noch hinter mir her waren. Vorsichtig riskierte ich einen Blick über die Schulter nach hinten, da schoss eine der Seeschwalben im Sturzflug wenige Zentimeter an meinem Kopf vorbei. Gottseidank überholte mich in diesem Moment ein Reisebus voller Touristen. Die Vögel brachen ihre Angriffsformation auf und kehrten zu ihren Brutplätzen zurück.
Völlig außer Atem saß ich schließlich am Strand von Langhammars und bestaunte die gewaltigen Steinrauken. „Du bist ziemlich flott unterwegs.“ sagte da eine Stimme hinter mir. Ich drehte mich langsam um. Hinter mir stand eine ältere Dame und grinste mich schelmisch an. „Das musst du hier auch sein.“ grinste ich zurück. „Bist du zu langsam, fressen dich die Vögel.“ Die alte Dame nickte. "Die Seeschwalben sind eigentlich harmlos. Sie fliegen lediglich Scheinangriffe um dich von ihren Nestern fernzuhalten. Gefährlich wird es nur wenn du diese Warnungen ignorierst. Vor Jahren war ich mit einer Touristengruppe hier. „Geht nicht zu nahe an die Nester.“ habe ich ihnen noch eingeschärft. Ein alter Mann wollte nicht hören und bekam einen Schnabelhieb zwischen die Augen. Er hatte eine richtig hässliche Schnittwunde und blutete wie ein Schwein.“
Die alte Dame schüttelte grinsend den Kopf. „Ich bin übrigens Anna.“ Ich reichte ihr die Hand. „Du bist Touristenführerin?“ Anna nickte. „Heute bin ich mit einem Haufen norwegischer Touristen hier.“ „Klappt das denn mit der Verständigung?“ fragte ich erstaunt. Anna schnaubte verächtlich und machte eine wegwerfende Handbewegung. „Ach, das ist doch alles mehr oder weniger dasselbe. Zwar haben die Norweger einige andere Wörter als wir, doch die Gemeinsamkeiten sind bei weitem größer als die Differenzen. Dänisch, Schwedisch und Norwegisch, kannst du getrost als Dialekte des Gemeinskandinavischen sehen. Lediglich die Sprachen der Färinger und Isländer würde ich als eigene Sprache bezeichnen, da sie sich seit langem isoliert entwickeln. Jeder skandinavische Dialekt hat ein paar andere Wörter. Hier auf Gotland haben wir mit unserem „Gutamål" auch einen eigenen Dialekt, der einige Gemeinsamkeiten mit dem Norwegischen aufweist."
Als ich später zu meinem Fahrrad zurück schlenderte, winkte mir bereits jemand von weitem zu. Auch Vladimir hatte es über den Fårösund geschafft. „Hattest du denn auch Probleme mit den Vögeln als
du über das Plateau gefahren bist?“ fragte ich, nachdem wir uns ausgiebig begrüßt hatten. Die Augen des Slowaken weiteten sich. „Das kann man wohl sagen! Ich habe mir gedacht ich spinne, als die
Viecher plötzlich auf mich losgegangen sind! Instinktiv bin ich mitten auf der Straße stehen geblieben, während sich die Vögel immer wieder auf mich herabgestürzt haben. Nach einer Weile ist mir
dann klar geworden dass sie nur bluffen und dann bin ich weiter gefahren."
Vladimir und ich beschlossen die Fahrt gemeinsam fortzusetzen und folgten dem Gotlandsleden quer über die Insel Fårö. Recht weit waren wir allerdings noch nicht gekommen, als Vladimir plötzlich
langsamer wurde. „Steve, ich glaube ich habe einen Platten!“ rief er mir von hinten zu. Fluchend entlud er sein Fahrrad und befühlte den leeren Schlauch. „Ich habe mir das Rad nur von einem
Freund geliehen und nicht einmal ein Flickzeug dabei.“ jammerte Vladimir. Ich klopfte ihm auf die Schulter. „Kein Problem, ich habe alles was wir brauchen. Geh mal zur Seite und lass mich
machen.“ Keine Viertelstunde später war das Rad wieder fahrtauglich. Vladimir stand die Erleichterung ins Gesicht geschrieben. „Mann Steve, da hast du mir echt den Hintern gerettet, dafür gebe
ich dir einen aus."
Wenig später saßen wir gemeinsam im Garten eines kleinen Holzhauses. Hier gab es Kaffee und Kuchen, der von einer netten Schwedin mit roter Schürze aufgetischt wurde. Vladimir rührte in seiner Kaffeetasse und lehnte sich zufrieden zurück. „Warst du schon einmal in Norwegen Steve?“ fragte er nach einer Weile. Ich schüttelte den Kopf. „Nein, ich bin zum ersten Mal in Skandinavien.“ Vladimir nickte und fuhr fort. „Mein Onkel hat mir jahrelang die Ohren von Norwegen vollgejammert. Er ist da jedes Jahr zum Fischen hingefahren und war total begeistert von dem Land.“ Vladimir lächelte und machte eine kurze Pause. „Weist du Steve, ich habe sein Gerede nie ganz ernst genommen. "Du mit deinem Norwegen, rutsch mir doch den Buckel runter. Ich fahre dieses Jahr nach Alaska.“ habe ich zu ihm gesagt. „Ich war dann auch wirklich in Alaska und es war auch alles recht und schön. Ein Jahr darauf musste ich dann geschäftlich in den Norden Norwegens. Ich bin da nur mit dem Auto hingefahren und ich sage dir Steve, das war besser als Alaska.“ Vladimir schnappte sich sein Smartphone und blätterte durch die Bildergalerie.
Die Fotos zeigten smaragdgrüne, tief eingeschnittene Fjorde, schneebedeckte Gipfel und glasklare Flüsse. Anerkennend pfiff ich durch die Zähne. „Da ist ja das was ich von Skandinavien bis jetzt gesehen habe ein Witz dagegen.“ Vladimir nickte. „Steve, wenn du mit Gotland fertig bist, vergiss Schweden und schau zu dass du nach Norwegen kommst.“ Ich war nicht überzeugt. „Du hast ja leicht reden, mit dem Auto ist das ja auch keine Kunst. Wie soll ich überhaupt da hinkommen? Von den Steigungen einmal ganz zu schweigen.“ Vladimir grinste. „Was weiß ich wie du das anstellst? Steig von mir aus in den Zug, aber schau zu dass du deinen Hintern dort hinbekommst.“ „Kommt nicht in Frage.“ sagte ich. „Glaubst du ich reiße mir wegen deiner Flausen die Tour auseinander? Jetzt bin ich erst mal auf Gotland und dann werde ich mir noch Stockholm ansehen. Mehr ist im Moment nicht drin."
An diesem Tag radelten wir noch lange in die Nacht hinein. Es war bereits dunkel, als wir auf einem Fußballfeld unsere Zelte aufstellten. Vladimir hatte ein kleines Biwak dabei, das mehr an einen Sarkophag als an ein richtiges Zelt erinnerte. Am nächsten Morgen kämpften wir uns gegen mörderischen Gegenwind Richtung Süden. Durch die schlechte Beschilderung verloren wir immer wieder den Weg. Ein paar Mal gelangten wir sogar auf die vielbefahrene Hauptstraße, was bei keinem von uns Begeisterungsstürme hervorrief. Sonst führte der Gotlandsleden hauptsächlich auf ruhigen Landstraßen und geschotterten Waldwegen. Als wir die kleine Stadt Boge erreichten, war Vladimirs Radreise so gut wie zu Ende. Noch am selben Nachmittag wollte er entlang der Hauptstraße zurück nach Visby radeln. Von dort sollte ihn die Fähre zurück aufs Festland bringen.
Lass uns noch einen Kaffee trinken.“ schlug Vladimir vor, als wir die Wegkreuzung erreicht hatten. Er deutete auf ein nettes kleines Kaffeehaus aus hellblauen Holzplanken. „Hast du nicht erzählt du warst auf Öland?“ fragte er mich, als wir auf der sonnigen Veranda Platz genommen hatten. Ich nippte an meiner Kaffeetasse und nickte. „Dann ist dir vielleicht die kleine Insel aufgefallen die zwischen Öland und dem Festland im Kalmarsund liegt?“ „Klar vom Norden der Insel konnte man sie sogar sehen. Ist das nicht ein Naturschutzgebiet?“ fragte ich. „Ganz genau. Es ist der Blå Jungfrun Nationalpark. Vor ein paar Wochen habe ich mir eingebildet, dass ich dort hin muss. Also habe ich mir in Oskarshamn ein Boot gemietet.“ Vladimir holte sein Handy hervor und zeigte mir das Bild eines windigen Schlauchbootes mit Außenbordmotor. „Mit dem Ding wollte ich den Kalmarsund überqueren und rüber auf die Insel.
Obwohl ich geradewegs auf sie zugesteuert habe, ist die Blå Jungfrun nicht und nicht näher gekommen. Es hatte ordentlichen Wind und nach einer gefühlten Ewigkeit war die Insel immer noch genau so weit weg wie eh und je. Da habe ich es langsam mit der Angst zu tun bekommen. Umkehren wollte ich aber auch nicht mehr, weil ich schon so lange gefahren bin. Irgendwann bin ich dann tatsächlich auf der Insel angekommen. Jeder dem ich die Geschichte bis jetzt erzählt habe hat mir einen festen Vogel gezeigt.“ Ich schüttelte grinsend den Kopf. „Du spinnst ja komplett. Mit so einer windigen Nussschale zwanzig Kilometer über das offene Meer und wieder zurück.“ Kurz darauf wurde es Zeit von einander Abschied zu nehmen. „Hat mich gefreut dich kennen gelernt zu haben du Spinner. Pass auf dich auf und gute Heimreise aufs Festland." Vladimir umarmte mich zum Abschied. „Das gebe ich zurück Mann. Ich wünsche dir noch eine schöne Reise und lass was von dir hören. Meine Email Adresse hast du ja nun."
Von nun an kämpfte ich mich alleine gegen heftigsten Wind in den Süden Gotlands. Die Gegend bestand hauptsächlich aus Ansammlungen von Ferienhäusern, zwischen denen unzählige Kaninchen hin und her hoppelten. Die Südwestküste war tief zerklüftet mit beeindruckenden Klippen. Leider war der Wind jedoch allgegenwärtig. Dieser erschwerte mein Vorankommen derartig, dass ich immer frustrierter wurde. Irgendwann haute ich in meiner Wut den höchsten Gang hinein und trat in die Pedale, dass die Ritzel nur so splitterten. Der Sattel rutschte ständig weiter hinein und meine Knie schmerzten furchtbar. Abends strampelte ich an den Windparks und dem rauchendem Industriegebiet von Klintehamn vorbei. Auf einem Wiesengelände am Meer baute ich schließlich mein Zelt auf, während mir der Wind die stinkende Meeresluft um die Ohren blies. Sturmböen schüttelten mein Zelt und nur mit Ohrstöpseln bekam ich überhaupt ein Auge zu. Das Hilleberg Unna war dem starken Wind nur bedingt gewachsen und flatterte wie verrückt. Wären nicht ein paar struppige Büsche als Windschutz gewesen, hätte ich in dieser Nacht wahrscheinlich überhaupt kein Auge zubekommen.
Am nächsten Morgen hatte die Natur ihre Hunde wieder zurückgepfiffen. Auf der letzten Etappe war der Wind sogar mein Verbündeter. Am Nachmittag saß ich schließlich wieder im Espresso House von Visby. Genau eine Woche hatte es gedauert die Insel zu umrunden. Am nächsten Morgen wollte ich die Fähre nach Nynäshamn, zurück aufs Festland nehmen. Während ich drinnen meinen Kaffee schlürfte, machte vor dem Restaurant ein armer Tölpel den Fehler, sein Tablett für ein paar Minuten aus den Augen zu lassen. Da stürzte sich auch schon ein Pulk Möwen wie ein gefiedertes Raubkommando auf die Beute. Innerhalb von Sekunden waren Pommes und Burger in den hungrigen Schlunden verschwunden. Der arme Kerl konnte die Vögel nur mehr böse anfunkeln, die sich bei seiner Rückkehr sofort auf ein Hausdach geflüchtet hatten.
In einem muffigen Fahrradgeschäft kaufte ich mir kurz darauf eine neue Sattelklemme. „Damit sollten die Knieschmerzen und Rutscherei endlich ein Ende haben.“ dachte ich zufrieden. Am Abend zerlegte ich mein Fahrrad zur Gänze und reinigte die Ritzelsätze. Als bereits alles wieder fertig zusammengebaut war, brach mir beim Aufpumpen der Verschlussstift des Ventils ab. „Jetzt bin auch ich in den Genuss gekommen.“ ging es mir durch den Kopf, während ich den Reifen wieder ausbaute. Als das Fahrrad endlich wieder vollständig zusammen gebaut war, wurde es bereits dunkel. Am nächsten Tag bestieg ich bereits um sechs Uhr morgens die Fähre zurück aufs Festland. Das Schiff brachte mich direkt nach Nynäshamn, von wo es nur mehr siebzig Kilometer bis in die Hauptstadt Stockholm waren.
Die verschlafene kleine Hafenstadt Nynäshamn liegt südlich von Stockholm, in den Schärengärten der Ostsee. Leider waren die letzten Kilometer von dort bis in die schwedische Hauptstadt alles andere als eine Offenbarung. Zuerst erwies sich der Weg noch als relativ lauschig. Auf einer kleinen Straße ging es durch Wälder und Hügel. Irgendwann gelangt ich jedoch auf eine Schnellstraße, der ich dann auch eine ganze Weile nicht mehr entkommen konnte. Die Autos rasten haarscharf an mir vorbei, Rücksicht wurde so nahe an der Hauptstadt keine mehr genommen. Die darauf folgenden Gewerbegebiete waren unansehnlich, hektisch und laut. Weiter ging es durch trostlose Wohngebiete und sogar durch ein kleines Roma Lager, bis ich endlich am Campingplatz von Stockholm angelangt war.
Zwar gab es im Zentrum der Stadt auch günstige Hostels, aber lieber hätte ich auf der Straße geschlafen, als in einem Massenlager mit fünfzehn Schnarchern schlaflose Nächte zu verbringen. An der Rezeption hing ein großes Schild: "Bezahlung nur mit Kreditkarte möglich - Bargeld wird nicht akzeptiert." In Schweden konnte man wirklich an jedem Würstelstand mit Kreditkarte bezahlen, was im deutschsprachigen Raum undenkbar wäre. Anscheinend hatte es sogar schon Bestrebungen gegeben, das Bargeld gleich komplett abzuschaffen. Was die Hauptstadt Schwedens anbelangte, hatte ich meine Erwartungen relativ tief geschraubt und wurde positiv überrascht. Stockholm übertraf alles, was ich auf dieser Reise bis dahin gesehen hatte.
Leider wurde mir auf dem Campingplatz ein Teil meiner Ladegräte gestohlen, die ich dann für ein kleines Vermögen in der Stadt nachkaufen musste. „Das ist nun einmal Schweden.“ entschuldigte sich der Verkäufer im örtlichen Elektronikmarkt und klopfte mir tröstend auf die Schulter. „Das ist nicht Schweden, das sind Campingplätze.“ murmelte ich zurück. Nach diesem Vorfall brachte ich diesen Meeren aus hässlichen Plastikfahrzeugen noch weniger Liebe entgegen als zuvor. Um zumindest einen Teil des verlorenen Geldes wieder einzusparen, verzichtete ich auf den öffentlichen Stadtverkehr und legte sämtliche Wege mit dem Fahrrad zurück. In einer Werkstatt ließ ich mir die Schaltung nachstellen, die auf den letzten Kilometern schon ein wenig schwammig geworden war.
„Wie willst du jetzt weiterfahren?“ fragte mich Eva, eine Schwedin, die ich an meinem zweiten Tag in der Hauptstadt kennen gelernt hatte. Wir hatten den ganzen Tag gemeinsam verbracht und saßen nun auf der Insel Skeppsholmen, wo wir den vorbeiziehenden Schiffen zusahen. „Ich werde der Küste noch bis Umeå folgen. Von dort nehme ich die Fähre nach Finnland und dann sehe ich weiter.“ Eva riss die Augen auf. „Nach Umeå, ist es aber noch sehr weit von hier.“ Ich zuckte die Schultern. „Jetzt habe ich es schon bis hierher geschafft, da kommt es auf ein paar hundert Kilometer mehr oder weniger auch nicht an.“
Und so sattelte ich fast zwei Monate nach unserem Aufbruch in Linz, ein weiteres mal meinen Esel und verließ Stockholm nordwärts. Die Ausfahrt aus der Stadt war nicht so schlimm wie das Hineinfahren, aber dennoch alles andere als ein Vergnügen. Als das innere Stadtgebiet endlich zu Ende war, ging es durch ein ruhiges Nobelwohngebiet, dann längere Zeit über eine vierspurige Straße. Es war mir alles ein Graus, meine Knie schmerzten und ich bereute meine Entscheidung weiter zu fahren bereits zutiefst. Doch am Abend wurde es gottseidank besser. Eine kleine ruhige Straße schlängelte sich durch felsige Hügel und ausgedehnte Wälder. Abends stellte ich mein Zelt ins Heidekraut und ließ mich von den Mücken in den Schlaf summen. Hatte ich nach der Trennung von meinen Freunden noch gelegentlich mit der Einsamkeit gehadert, so machte sie mir nun, nach fast einem Monat des Alleinseins, kaum noch etwas aus.
Die Landschaft die ich nun durchquerte, war nicht spektakulär, aber dennoch ansehnlich. Es ging über sanfte Hügel und durch dichte Nadelwälder, in denen gigantische, von Flechten bewachsene Steinbrocken lagen. Abends freute ich mich stets über mein selbststehendes Zelt, denn Heringe hätten im felsigen Boden keinen Halt gefunden. Eines Morgens ließ ich mich dazu hinreißen einen schwer verletzten Raben, der halbtot auf der Straße lag, hinüber ins Jenseits zu befördern. Als ich kuz darauf eine dicke Kröte, sicher auf die andere Fahrbahnseite bringen konnte, hellte sich meine Stimmung wieder ein wenig auf. Ich stieß kontinuierlich weiter nach Norden vor und durchquerte die Provinzen Uppland und Gästrikland. Mit der Stadt Gävle hatte ich das Tor von Svealand (Mittelschweden) nach Norrland (Nordschweden) offiziell passiert.
Der Ostseeküstenradweg verlief selten auf stärker befahrenen Straßen und häufig auf Wegen die so abgelegen waren, dass sie nicht einmal asphaltiert waren. Auf einer dieser Schotterpisten zuckelte plötzlich ein Dachs mehrere Meter vor mir über die Fahrbahn. Als der Kerl mich erblickte, grub er seine Pfoten in den kiesigen Boden und buckelte mich böse an. In diesen Tagen hatte meine körperliche Leistungsfähigkeit ihren absoluten Höhepunkt erreicht. Mit Leichtigkeit flog ich über das Land, meine Knie hatten aufgehört zu schmerzen und ich fuhr längere Etappen als je zuvor. Während ich so dahin radelte, kam mir plötzlich ein Mountainbiker entgegen. Der Kerl hatte einen engen roten Strampelanzug am Leib und schien vor Kraft nur so zu strotzen. Als er mich erblickte wechselte er die Straßenseite und kam geradewegs auf mich zu.
„Willst du hoch zum Nordkap?“ fragte er in gebrochenem Englisch mit südländischem Akzent. „Nordkap?“ fragte ich verwundert. „Nein ich will nach Umeå und dann mit der Fähre rüber nach Finnland.“ Mein Gegenüber starrte mich verwundert an. „Alle wollen doch ans Nordkap! Ich bin vor zwei Wochen dort los geradelt. Jetzt habe ich noch ein Monat um heim nach Spanien zu kommen.“ „Der spinnt doch.“ dachte ich mir als ich wieder alleine war. Gleichzeitig kam ich mir selbst ein wenig dumm vor, weil ich keine Ahnung hatte, wo das Nordkap eigentlich genau liegt. Abends schaute ich auf meiner Karte nach. „Von so weit oben bis hierher in zwei Wochen.“ Fassungslos steckte ich mein Iphone weg und schüttelte müde den Kopf. „Ich habe doch hierher schon zwei Monate gebraucht und wenn ich es noch bis nach Umeå und hinüber nach Finnland schaffe, käme das für mich schon einer Sensation gleich.
Das Wetter war mittlerweile enorm heiß geworden und ich fuhr von einem Friedhof zum nächsten um meinen Wasserbedarf zu decken. Einmal sprang ich sogar in einen der zahlreichen Seen. Allerdings war dieser für schwedische Verhältnisse eher ein Ententeich und ich verhedderte mich in einem Dickicht von Seerosen und anderen Wasserpflanzen. Ordentliche Lagerplätze zu finden gestaltete sich trotz der dünn besiedelten Landschaft als nicht ganz einfach. Die Wälder waren verwachsen und steinig, auf den Wiesen stand das Gras meterhoch und überall befanden sich kleine Tümpel. Es gab gewöhnliche Gelsen und winzig kleine, aber extrem aggressive Fliegen. Diese Mistviecher setzten sich überall auf meine Kleidung und gelangten so mit mir ins Zelt. Drinnen angekommen suchten sie so lange nach einer ungeschützten Hautstelle bis sie fündig geworden waren und stachen zu. Abends gemütlich vor dem Zelt zu sitzen, war seit meiner Rückkehr aufs Festland nicht mehr möglich.
Die nordschwedischen Straßen wandelten sich teilweise in regelrechte Pisten. Durchsetzt von Schlaglöchern, führten sie durch endlose Wälder. Die Landschaft selbst war ein Genuss, lediglich der Nordwestwind bremste mich etwas aus. Mit Sundsvall erreichte ich die größte Stadt der historischen Provinz Medelpad. Dabei handelte es sich wahrlich um kein Schmuckstück. Die Stadt zog sich mit ihren Vororten und Gewerbegebieten an beiden Enden jämmerlich in die Länge. Erst ein ganzes Stück dahinter verließ der Weg die Hauptstraße und führte hinauf ins gottverlassene Hügelland. Die kleinen Fliegen waren hier derartig zahlreich vorhanden, dass jeder Stopp zur Qual wurde. Sie stürzten sich mit derartige Vehemenz auf mich, als wollten sie mich in ihren Hügeln nicht dulden. Mit der Provinz Ångermanland begann das Gebiet der Hochküste am Bottnischen Meerbusen.
Mein rasches Vorankommen hatte damit ein jähes Ende. Die unzähligen Hügel der Höga Kusten bremsten mich enorm und drosselten mein Tempo maßgeblich. Unzählige Anstiege wollten bewältigt werden, während sich der Weg an den Buchten der Ostsee vorbeischlängelten. Ständig war Wasser zu sehen und ich wusste nie, ob es sich um einen Fluss, einen See oder gleich um das Meer selbst handelte, waren die Übergänge doch fließend. Das Schlimmste hatte ich allerdings noch vor mir. Am späten Nachmittag überquerte ich den Ångermanälven über die Högakustenbron. Diese Hängebrücke ist fast so lang wie die Golden Gate Bridge und damit das zweithöchste Bauwerk Schwedens. Auf dem Pannenstreifen der E4 kämpfte ich mich über den Fluss, während mir der Wind die Elemente um die Ohren schleuderte. Die Autos rasten mit Höchstgeschwindigkeit an mir vorbei und als ich die Brücke endlich überquert hatte, zitterte ich am ganzen Körper. Abends campte ich auf einem Rastplatz und konnte immerhin mein Zelt aufbauen, ohne dabei von hungrigen Fliegen gelyncht zu werden.
Der nächste Tag wurde einer der anstrengendsten auf der gesamten Reise. Es regnete ohne Unterlass und die Hochküste prügelte mich windelweich. Um die E4 Schnellstraße zu umgehen machte der Weg große Umwege. Auf schlammigen Schotterpisten ging es über einen Hügel nach dem anderen, während der Regen auf mich niederprasselte. Als ich Stunden später endlich wieder Asphalt unter den Reifen hatte, war ich komplett durchnässt und von oben bis unten voller Schlamm. Mein Rad knirschte erbärmlich durch den ganzen Dreck, der sich zwischen den Kettenblättern angesammelt hatte. In Örnsköldsvik, dem Sitz von Fjäll Räven, flüchtete ich mich in ein Burger King Restaurant und verließ es bis zum Einbruch der Dämmerung nicht mehr. Unter dem Mantel der Dunkelheit stellte ich schließlich mein Zelt auf einer verlassenen Wiese auf.
Am nächsten Tag hatte ich die Höga Kusten endlich hinter mir. Zwar war die Landschaft immer noch alles andere als eben, aber wenigstens hatte das gnadenlose Auf und Ab ein Ende. Auch an diesem
Tag musste ich ein kurzes Stück auf der verhassten E4 zurücklegen. Die Schnellstraße war hier in beide Richtungen einspurig. Das hatte zur Folge, dass ich zwischen Leitplanke und Verkehr
regelrecht in der Falle saß. Ein bulliger Glatzkopf im Carlsberg LKW hupte mich wie verrückt an und droht mir sogar mit der Faust. Ich fuhr trotzdem weiter, denn alles andere hätte in dieser
Situation auch nicht viel Sinn gemacht. Abends kehrte ich in einem netten Kaffeehaus ein. Daniel der Kellner hatte eine schwäbische Mutter und freute sich sichtlich mit mir Deutsch schwätzen zu
können. „Wo bekommst du eigentlich sonst dein Wasser her?“ fragte er mich, nachdem ich meine Vorräte aufgefüllt hatte. „Na von den Friedhofsbrunnen.“ antwortete ich schulterzuckend. Daniel riss
die Augen auf. „Das trinkst du?“ fragte er entsetzt. „Ja, bis jetzt habe ich es auch gut vertragen!“ Der Schwede schüttelte den Kopf. „Nur weil du die Schilder an den Wasserhähnen nicht lesen
kannst heißt das nicht, dass es deshalb auch automatisch Trinkwasser ist.“ Am Abend erreichte mich ein Email von Patrick und Isa:
„Gegrüßet seist du, sitzen gerade an der Tanke und erholen uns vom eisigen zeltzerfetzenden Wind, der nicht mehr als 10 km/h zulässt! Kommen in zwei Wochen wieder in Hirtshals an und von
dort sind es Pi mal Daumen noch 700 km nach Hamburg. Das ist unser nächstes Ziel auf dem Festland. Frozen Greez from the Isle of Ice!"
Ich absolvierte gerade die letzte Etappe nach Umeå, als sich der Himmel über mir verfinsterte. Der Regen setzte mit einer Intensität ein, die jeder Beschreibung spottete. In einem Anflug von geistiger Umnachtung suchte ich Schutz in einem nahe liegendem Gebüsch. Dutzende Moskitos stürzten sich sogleich begeistert auf mich. Hier stand ich also, mitten im tropfenden Dickicht und wedelte mit einem Stofftaschentuch herum, um die stechenden Teufel auf Distanz zu halten. Irgendwann wurde mir die Situation zu mühsam und ich setzte mich wieder aufs Fahrrad, obwohl es immer noch wie von Sinnen regnete. In Umeå kam ich auf einem kleinen Campingplatz unter, der von einem netten Italiener betrieben wurde. Signore Alfio führte mich über das Gelände und zeigte mir sein Reich. „Lass deine Sachen einfach hier liegen. Ich bin seit vierzig Jahren an diesem Fleck und es ist noch nie etwas weggekommen.“ sagte der Padrone.
Anschließend zeigte er mir seine kleine Bäckerei, die direkt neben dem Campingplatz lag. „Gestern waren zwei junge Deutsche hier, die ebenfalls mit dem Fahrrad unterwegs waren. Sie sagten ihr Ziel wäre das Norkap, kannst du dir das vorstellen?“ Ich zuckte mit den Schultern. „Das Nordkap scheint ja so etwas wie ein Pilgerziel für Radfahrer zu sein. Ich will allerdings rüber nach Finnland. Leider habe ich dafür keine Karte auf meinem Navi, weil ich ursprünglich nach Island gewollt habe. Daher möchte ich dich um einen Gefallen bitten. Hast du irgendwo einen Computer den ich kurz verwenden kann?“ Signore Alfio nickte. „Das ist kein Problem, aber ich kenne mich mit diesem modernen Zeug nicht aus.“ „Das macht gar nichts, ich weiß was ich tue.“ „Dann komm mit.“ Der Italiener führte mich in das Büro seiner Bäckerei und wenige Minuten später hatte ich eine Karte von Finnland auf mein Navi geladen. Überschwänglich bedankte ich mich bei meinem Gastgeber. Der winkte lachend ab. „Ich habe gesagt kein Problem und wenn ein Italiener sagt „kein Problem“, dann ist es auch kein Problem.
Die Nacht auf dem Campingplatz war leider nicht besonders erholsam. Irgend eine Art von Belüftungssystem brummte die halbe Nacht wie wild und hinderte mich am Einschlafen. „Buongiorno my friend! Here, bread for you!“ tönte es am Morgen durch die Zeltwand. Als ich meinen verschlafenen Kopf hinaushielt, flog mir auch schon ein Sack frisches Brot um die Ohren. Leider hatte die hauseigene Waschmaschine komplett versagt und Trockner gab es auch keinen. Als ich früh morgens in die nassen Klamotten vom Vortag schlüpfen musste, sank meine Laune in den Keller. Außerdem hatte ich es immer noch nicht geschafft, das Problem mit der rutschenden Sattelstütze zu lösen. Die neue Klemme hatte nichts gebracht und der verdammte Sitz rutschte wie eh und je. In meiner Wut stopfte ich schließlich ein Blatt Papier seitlich mit der Sattelstütze ins Rohr. Damit war die Angelegenheit ein für alle Mal behoben.
Nun stellte sich lediglich die Frage wie es nun weitergehen sollte. Von Umeå gab es eine Fährverbindung über die Ostsee, mit der ich noch am selben Tag ins finnische Vaasa hinüber gelangen hätte können. Der Gedanke war verlockend. Allerdings war mir Schweden trotz der immer gleichen Landschaft irgendwie ans Herz gewachsen. Auch körperlich ging es mir immer noch halbwegs gut. Spontan beschloss ich in Schweden zu bleiben und Finnland auf dem Landweg zu erreichen. „Sei bloß vorsichtig Stephano.“ sagte Signore Alfio, als ich bereit zur Abfahrt war. „Gestern erst ist wieder ein Radfahrer ums Leben gekommen.“ Ich nickte und reichte dem alten Mann die Hand. „Ich werde aufpassen. Danke für alles.“
Mein Weg führte mich nun durch die letzten beiden schwedischen Provinzen: Västerbotten und Norrbotten. Im Norden des Landes gab es nicht mehr besonders viele Straßen. Der Ostseeküstenradweg musste daher große Umwege machen, um die E4 zu meiden. Auf unbefestigten Schotterstraßen ging es durch endlose Moore und ausgedehnte Steinfelder. Abends landete ich auf einem ruhigen Naturcampingplatz, wo ich Tanja, eine Radfahrerin aus Düsseldorf traf. Wie alle Radler die mir in den letzten Wochen begegnet waren, wollte auch sie ans Nordkap. „Eins verstehe ich nicht Steve.“ sagte Tanja, nachdem wir uns ein wenig unterhalten hatten. „Jetzt kämpfst du dich den ganzen schwedischen Ostseeküstenradweg hoch und dann willst du in Finnland durch die gleiche Landschaft wieder hinunter radeln. Was hält dich davon ab nach Norwegen zu fahren, oder es zumindest zu versuchen?“
Da hatte sie in der Tat einen wunden Punkt getroffen. Ich seufzte. „Weist du, ich bin schon irrsinnig dankbar dass ich überhaupt bis hierher gekommen bin. In Stockholm habe ich schon überlegt nach Hause zu fahren und jetzt bin ich bin bald an der Grenze zu Finnland. Jeder geschaffte Tag fühlt sich an wie ein kleines Wunder. Ich habe gelernt mir die Ziele immer nur so hoch zu stecken, dass ich sie noch realisieren kann. Wenn ich mir heute schon Gedanken darüber machen würde was in einem Monat sein wird, wie sollte ich da nicht völlig verzweifeln?“ Lächelnd dachte ich an den Mann, der diese Worte einst an mich gerichtet hatte. Tanja zuckte mit den Schultern. „Ich werde jedenfalls hier abzweigen und dann diese Route nehmen.“ Sie zeigte auf eine Straße die sich am Torneälven, dem Grenzfluss zwischen Schweden und Finnland entlang nach Norden schlängelte. Ich nickte. „Dann wünsche ich dir dass du heil am Nordkap ankommst. Ich habe vor an der Küste zu bleiben. Außerdem bin ich gemütlich unterwegs. Wir werden uns also voraussichtlich nicht mehr sehen.“
Als ich am nächsten Morgen den Kopf aus dem Zelt hielt, war es bereits später Vormittag und Tanja war längst verschwunden. Mittlerweile merkte ich deutlich, dass die Schaltung schon ein paar tausend Kilometer im Getriebe hatte. Die unbefestigten Forststraßen trugen das ihre dazu bei und ließen mich nur langsam vorankommen. In Nordschweden war auch alles ein wenig teurer als im Süden des Landes. Vor allem beim Einkaufen machte sich das höhere Preisniveau bemerkbar. Aber auch im Espresso House, wo ich seit Wochen meinen Cappucino um 40 Kronen schlürfte, kostete dieser plötzlich zwei Kronen mehr. Als ich die Stadt Piteå erreichte, nahm sich ein freundlicher Radfahrer meiner an und zeigte mir den Weg ins Zentrum.
„In der Fußgängerzone gibt es ein Kaffeehaus, das von einem österreichischem Paar betrieben wird. Das könnte dir gefallen. “ sagte der Schwede mit einem freundlichen Grinsen. „Ich werde es mir ansehen, danke dass du mir den Weg gezeigt hast.“ Der Schwede nickte. „Und Steve, wenn ich dir noch einen Rat geben darf?“ „Ich höre.“ „Kauf dir eine Warnweste. Wir haben hier viele norwegische Touristen, die fahren wie die Teufel. Du musst wissen, in Norwegen sind Geschwindigkeitsverstöße extrem teuer. Die schwedischen Bußgelder sind da der reinste Witz dagegen. Also Steve, tu mir einen Gefallen und nimm dich vor diesen Verrückten in acht.“
Am nächsten Tag erreichte ich mit Luleå die letzte größere Stadt vor der finnischen Grenze. Nach einem vertrödelten Vormittag im Espresso House, fuhr ich mit dem Bus ins Kirchdorf Gammelstad. Dieser Ort gehört zum Weltkulturerbe und bildet das alte Zentrum der Stadt Luleå. Die Siedlung aus rund vierhundert roten Holzhütten reiht sich um eine alte Steinkirche, deren Bau im 13. Jahrhundert begonnen wurde. Das alte Zentrum lag ein ganzes Stück außerhalb der heutigen Stadt. Obwohl kaum Touristen unterwegs waren, wirkte die Szenerie gestellt und künstlich. Als ich mit dem Bus zurück zu meinem Fahrrad fahren wollte, weigerte sich der Chauffeur Bargeld anzunehmen. Erst als ich meine Kreditkarte zückte, zeigte er sich zufrieden und stellte mir das Rückfahrticket aus.
Wie diesem Reisebericht zu entnehmen ist, hatte ich seit Stockholm fast jeden Tag Probleme mit den Mücken gehabt. Was sich aber an jenem Abend abspielen sollte, stellte alles bisher dagewesene in den Schatten. Ich war bereits weit gefahren und hielt verzweifelt nach einem Lager Ausschau. Da entdeckte ich eine trockene Wiese mit Hecke als Sichtschutz, direkt neben der Straße. „Super!“ dachte ich mir. „Endlich wieder einmal ein lauschiger Lagerplatz. Das sieht ja richtig gemütlich aus hier.“ Doch als ich mein Fahrrad neben die Hecke stellte, schwärmte augenblicklich eine schwarze Wolke daraus hervor. Ich hoffte noch es wären vielleicht irgendwelche Fliegen, aber nein, es waren Moskitos und zwar zu hunderten. Einen Moment überlegte ich das Rad zu packen und zu flüchten, aber was hätte das genützt? Daher zog ich mir die Jacke über, setzte die Kapuze auf und baute von hunderten Mücken umschwärmt, innerhalb von drei Minuten das Zelt auf. Die einzige freie Hautstelle währenddessen war meine Stirn, was von den Viechern auch gnadenlos ausgenützt wurde. Staunend befühlte ich anschließend die Mondlandschaft, welche vor ein paar Minuten noch intakte Haut gewesen war. Dass diese Prozedur von nun an jeden Abend Standard sein würde, ahnte ich noch nicht.
An meinem letzten Tag in Schweden wurde ich über mehrere Kilometer von einem Schwarm großer Fliegen begleitet. Die Viecher ließen sich nicht abschütteln, was ahnen lässt wie es um meinen Hygienezustand bestimmt war. Das waren keine gewöhnlichen Stubenfliegen sondern riesige Brummer, so groß wie Wespen. Am Nachmittag suchte ich Zuflucht in einem kleinen Café, in dem sich genau so viele Mücken aufhielten wie draußen im Sumpf. Begeistert stürzten sich die Tiere auf mich, während sie an den anderen Gästen nicht das geringste Interesse zeigten. Bei einer späteren Pause bemerkte ich, dass mein Fahrradwerkzeug verschwunden war. Das war nicht etwa ärgerlich weil ich es für den Drahtesel benötigt hätte. Doch seit dem Verlust meines Taschenmessers hatte der Ritzelreiniger als Brotmesser herhalten müssen.
Auf den Straßen sah ich nun immer wieder Rentiere umherwandern. Ich konnte mich den Tieren auf etwa zwanzig Meter annähern bevor sie im Wald in Deckung gingen. Am Abend erreichte ich nach einer langen Schlaglochpiste endlich den Fluss Torneälven, der die Grenze zwischen Schweden und Finnland bildete. Ich trank nun meinen letzten Kaffee im schwedischen Königreich. Das Gasthaus lag malerisch an einer großen Stromschnelle direkt am Fluss. Am gegenüberliegenden finnischen Ufer standen exakt die gleichen roten Holzhäuser, die ich aus Schweden bereits zur Genüge kannte. Auf den Wiesen waren die Bauern gerade dabei das Heu ein zu holen. Zum Schutz gegen die Mücken trugen sie Ganzkörperanzüge und Helme mit Netzen, welche die Landwirte wie Imker aussehen ließen. Abends erreichte ich endlich die schwedisch - finnische Doppelstadt Haparanda - Tornio. Alleine an der merkwürdigen Sprache merkte ich, dass eine weitere Landesgrenze überschritten war. Nach diesem langen Tag hatte ich allerdings keine Lust mehr weiter zu radeln und quartierte mich daher am örtlichen Campingplatz ein.
Leider war der Campingplatz von Tornio fast genauso mückenverseucht wie die schwedischen Wälder. Mein Zeltnachbar entpuppte sich als netter Niedersachse. Durch seinen Sattelschutz, ein Einkaufssackerl von Edeka, hatte ich seine Nationalität gleich erraten. "Ich bin über das Baltikum und Finnland hierher geradelt. Nun will ich über Schweden wieder runter." erzählte mir der Buxtehudener. Ich musste grinsen. "Das ist ja lustig. Ich will genau in die Richtung aus der du gekommen bist und ungekehrt." Nachdem wir uns ein wenig ausgetauscht hatten, verkroch ich mich im Zelt und studierte meine Karte. Wenn das was mein Zeltnachbar erzählte der Wahrheit entsprach, erwartete mich in Finnland exakt die gleiche Landschaft, die ich aus Schweden bereits zur Genüge kannte. Auf meiner Karte konnte ich den Polarkreis erkennen, der durch Rovaniemi, die Hauptstadt von Finnisch Lappland verlief. "Rovaniemi." murmelte ich, während mein Hirn bereits zu arbeiten begann. Von hier waren es gerade einmal 150 Kilometer bis zum Polarkreis. "So weit nach Norden komme ich kein zweites Mal mehr. Warum nicht also den Polarkreis gleich mitnehmen? Und wenn ich erst einmal in Rovaniemi bin..." Meine Gedanken überschlugen sich und es dauerte noch eine ganze Weile bis ich endlich eingeschlafen war.
Die ersten Kilometer durch Finnland waren alles andere als ein Genuss. Entlang einer stark befahrenen Straße, ging es durch flache und furchtbar eintönige Gegenden. Vor der Hafenstadt Kemi verließ ich endlich die Küste und radelte landeinwärts in den Norden. An jener Stelle mündete der Kemijoki in den Bottnischen Meerbusen. Bei diesem Gewässer handelt es sich um den längsten Strom Finnlands. Einst war er ein stolzer Lachsfluss, doch nach dem zweiten Weltkrieg war es damit rasch vorbei. Der Unterlauf wurde durch zahlreiche Kraftwerke in eine Kette seelenloser Stauseen verwandelt. Entlang des westlichen Flussufers verläuft heute eine Schnellstraße, die direkt nach Rovaniemi führt. Ich folgte jedoch einer kleinen Straße am Ostufer, auf der nur wenig Verkehr herrschte.
Die Landschaft war hier viel offener als zuletzt in Schweden und wurde von Wiesen und Feldern geprägt. Undurchdringliche, sumpfige Birkenwälder, grenzten die weiten Flächen ein. "Wenn du in denen zelten willst musst du ein echtes Tier sein, denn dort hast du Nässe von unten, Gestrüpp von allen Seiten und dann noch die Mücken." Allein beim Gedanken daran, wurde mir heiß und kalt. Trockene Zeltplätze waren hier nicht leicht zu finden. An meinem ersten Abend in Lappland nutzte ich daher einen kleinen, trockenen Fleck, direkt an der Straße. Es herrschte kaum Verkehr und Fußgänger waren hier sowieso keine unterwegs.
In diesen Tagen verschlang ich die Reisememoiren des Simon Michalovicz. Dieser Abenteurer hatte Norwegen in seiner ganzen Länge, vom südlichsten Punkt bis ans Nordkap, zu Fuß durchwandert. Jenes Land war für mich mittlerweile zu einer Art Mythos geworden. Lächelnd dachte ich zurück an Vladimir, der mich am liebsten von Schweden nach Norwegen hinüber geprügelt hätte. Seine Fotos hatten bei mir jedenfalls einen bleibenden Eindruck hinterlassen. "Von Rovaniemi wären es noch lumpige 700 Kilometer bis ans Nordkap." ging es mir durch den Kopf, während ich Lappland auf der Karte studierte. Die einzige halbwegs geeignete Straße schien die E75 zu sein. Doch die wichtigste Frage war für mich: „Wieviel Verkehr herrschte dort?“ Und vor allem: „Wie sollte es weiter gehen wenn ich das Nordkap tatsächlich erreichen würde? Wäre meine Tour dann zu Ende? Und wie sollte ich von so weit oben jemals wieder nach Hause kommen?" Fragen über Fragen. Ich hörte noch lange das Kreischen der Wasservögel, während die Sonne gegen 23 Uhr im Kemijoki versank.
Am nächsten Morgen machte ich mich daran, die letzten Kilometer nach Rovaniemi hinter mich zu bringen. An der Landstraße, welcher ich nun schon den zweiten Tag folgte, gab es keine Einkaufsmöglichkeiten. Nicht einmal einen Friedhof hatte ich finden können und dementsprechend froh war ich, am Campingplatz von Rovaniemi meine Wasservorräte auffüllen zu können. Der Platz lag idyllisch am Ufer des Kemijoki, sollte jedoch der teuerste auf der gesamten Reise werden. Unweit von mir entfernt, war eine Radlerin dabei ihr Zelt aufzubauen. Sie hatte strohblondes Haar und grinste mich aus leuchtend blauen Augen freundlich an. "Ich bin Aila." stellte sie sich vor und reichte mir die Hand. "Du siehst aus als wärst du schon länger unterwegs." schlussfolgerte die Finnin, nachdem sie mich abschätzend gemustert hatte. "Kann man wohl sagen." erwiderte ich müde. “Am liebsten zelte ich wild, aber gelegentlich komme auch ich nicht um einen Campingplatz herum. „ Aila nickte. "Es ist wirklich ein schöner Platz, aber total überteuert." Schlagartig war ich hellwach. "Das finde ich allerdings auch!“ schimpfte ich. „Gut dass du das sagst, ich dachte schon das wäre für Finnland normal.“
Sie kramte in ihren Radtaschen. „Ich werde mir mal was zu essen machen. Hast du auch einen Kocher dabei?" Ich schüttelte den Kopf. "Nein sowas brauche ich nicht. Ich habe keine Lust zu kochen und außerdem will ich nicht noch mehr Zeugs durch die Gegend karren müssen.“ Aila riss die Augen auf. "Dann koche ich dir jetzt was zu essen. Meine Töchter haben mir haufenweise Fertiggerichte eingepackt. Die sind gerade bei der Arme und können dieses Pulverzeugs schon nicht mehr sehen." Ich hob die Augenbrauen. "Die Mädels müssen zur Armee?" Aila schüttelte den Kopf. "Die müssen nicht, aber sie wollen. Bei den Jungen ist es häufig umgekehrt."
Ich hatte mir die Hauptstadt Lapplands in den schönsten Farben ausgemalt, doch die Realität traf mich wieder einmal hart. Rovaniemi war im zweiten Weltkrieg völlig niedergebrannt worden. Beim Wiederaufbau hatten die schönen Holzhäuser, hässlichem Funktionalismus Platz machen müssen. "Dieser trostlose Ort kann unmöglich das Endziel meiner Reise sein." dachte ich kopfschüttelnd während ich durch die Straßen der Stadt streunte. Mittlerweile hatte ich herausgefunden, dass eine Buslinie, Rovaniemi mit dem Nordkap verband. Damit wäre geklärt wie ich von dort wieder zurück kommen würde. Auch Fahrräder könne man in den Bussen mitnehmen, teilte man mir im Ticketbüro am Bahnhof mit. Damit fielen mir keine Ausreden mehr ein und die Sache war klar. Ich würde bis ans Nordkap fahren und meine Tour dort beenden.
Als ich am nächsten Morgen den Kopf aus meinem Zelt hielt, war Aila bereits auf den Beinen. „Guten Morgen! Ich muss jetzt gleich in die Stadt fahren und mir einen Kaffee holen.“ begrüßte mich
meine Zeltnachbarin. Unwillkürlich schüttelte es mich. „Brrr, nein danke. Vom Kaffee habe ich mir in Schweden einen Grausen geholt.“ Aila hob eine Augenbraue. „Aber den schwedischen Kaffee kannst
du doch mit unserem hier nicht vergleichen. Der schmeckt doch total verbrannt!“ Ich nickte wild vor Zustimmung. „Das ist mir allerdings auch schon aufgefallen. Und du sagst hier ist das besser?
Na, ich werde es ja bald herausfinden.“
„Nicht einmal eine Sauna haben sie hier auf diesem Campingplatz.“ schimpfte Aila, während sie ihr Zelt abbaute. „Die ist mir nicht abgegangen.“ erwiderte ich schulterzuckend. „Ich war nämlich
noch nie in einer Sauna.“ Die Finnin riss die Augen auf. „Also eines sage ich dir Steve. Ich gebe dir jetzt meine Nummer und wenn du Finnland runterfährst und bei mir in Rauma vorbeikommst, heize
ich die Saune extra für dich ein.“ Ich winkte lachend ab. „Danke für das Angebot. Ich werde schauen wie weit ich es noch in den Norden schaffen kann. Das Nordkap wäre ein super Schlussziel, aber
wenn ich es bis dahin nicht schaffe, wird die Welt auch nicht untergehen.“ Aila umarmte mich zum Abschied. Dann blickte sie mich streng an. „Und Steve?“ „Ja?“ „Kauf dir einen Helm.“
Ich vertrödelte den gesamten Vormittag im Aufenthaltsraum des Campingplatzes. Nachdem ich mir die Route noch eimal genau angesehen hatte, steckte ich zufrieden die Karte weg. Als ich jedoch von der Holzbank aufstehen wollte, gehorchten mir plötzlich meine Beine nicht mehr. Von der Hüfte bis zu den Zehenspitzen, war mein gesamter Körper taub geworden. „Nein, doch nicht so kurz vor dem Ziel!“ dachte ich verzweifelt. „Seit Stockholm hat doch alles so gut funktioniert. Warum muss es ausgerechnet jetzt wieder schlechter werden?“ Doch nach ein paar Minuten kehrte das Gefühl zurück und alles funktioniert wieder halbwegs.
Die Ausfahrt aus Rovaniemi war ein absoluter Graus. Vor der Abfahrt hatte ich noch den halben Lidl aufgekauft und mein Fahrrad war beladen wie nie zuvor. Hinter Rovaniemi überquerte die E75 den Polarkreis. An jener Stelle befand sich ein regelrechter Tourismuskomplex, mit Souvenierständen und allem drum und dran. Ich ließ den ganzen Kommerz ungeachtet links liegen, um das Stadtgebiet schleunigst hinter mich zu bringen. Einige Kilometer hinter Rovaniemi wurde der Verkehr zwar langsam weniger, aber keinesfalls rücksichtsvoller. Zornig fluchte ich vor mich hin, während die verflixten Wohnmobile und andere Kübel, mit einem Mordstempo knapp an mir vorbei pfiffen. Am späten Nachmittag kam endlich eine Art Tankstelle in Sicht. Dabei handelte es sich um eine Mischung aus Supermarkt und China Restaurant, wo man unter anderem auch tanken konnte. Während ich an einem Tisch lümmelte und meinen Gedanken nachhing, schritt plötzlich ein bärtiger Kerl zur Tür herein. Zielstrebig steuerte er auf mich zu.
"So wie du aussiehst bist du wohl auch mit dem Rad unterwegs?" warf ich ihm entgegen. Meine Einschätzung stellte sich als richtig heraus. Norbert stammte aus Paris und war von Lille bis ans Nordkap geradelt. Nun befand er sich bereits auf dem Heimweg. Der Franzose war auf meiner Wellenlänge und so philosophierten wir stundenlang miteinander. "Ich werde noch bis Helsinki radeln und von dort die Fähre nach Deutschland nehmen. Dort angekommen, steige ich in den Zug. Deutschland werde ich bestimmt nicht noch einmal durchradeln.“ teilte mir Norbert mit. „Warum denn nicht?“ fragte ich erstaunt. „Von dort hättest du doch gar nicht mehr weit bis nach Frankreich.“
Norbert schüttelte den Kopf. „Erstens gibt die Landschaft im Norden Deutschlands nichts her. Außerdem habe ich dort schlechte Erfahrungen gemacht. Auf dem Weg von Frankreich nach Dänemark, musste ich das Land ja bereits durchqueren. Eines Abends habe ich mich ein wenig verkalkuliert und wollte nicht mehr weiterfahren. Da habe ich kurzer Hand in einem Wald mein Zelt aufgestellt.“ Ich nickte. „Wir haben in Deutschland auch immer wild gezeltet. Ist nie ein Problem gewesen.“ Norbert zuckte die Schultern und grinste unsicher. „Dann hattet ihr wohl mehr Glück als ich und seid nicht entdeckt worden. Bei mir hat es nicht lang gedauert und es kam eine Art Geländewagen angefahren. „Oh, das gibt jetzt Ärger.“ dachte ich noch, und so war es auch. Der Typ ist einfach vor meinem Zelt stehen geblieben. Dann hat er immer wieder mit dem Scheinwerfer auf- und abgeblendet. Währenddessen ließ er den Motor aufheulen, als wollte er mich gleich überrollen. Dann hat er irgendetwas auf Deutsch durch die Gegend geschrien. Ich habe kein Wort davon verstanden, die Botschaft dahinter allerdings schon. Also habe ich zusammengepackt und um 2 Uhr Nachts den nächsten Campingplatz erreicht. Diese Geschichte hat mich lange verfolgt und auch hier in Skandinavien hat es einige Zeit gedauert, bis ich mich beim Wildzelten wieder wohl gefühlt habe.“
Ich nickte. „Da kann ich dich verstehen, das ist wirklich eine üble Geschichte. Ich habe mit den Deutschen gute Erfahrungen gemacht. Wenigstens kann ich mich mit ihnen verständigen, das macht vieles einfacher.“ Als wir es schließlich schafften uns von der Tankstelle los zu reißen, war es bereits 20 Uhr. An diesem Tag kam ich nicht mehr besonders weit. Kurz darauf stellte ich mein Zelt in der Ecke einer Rastbucht auf, die wohl vornehmlich als Toilette benutzt wurde. Wenigstens waren vor dem Zelt so viele Mücken, dass sich heute kein Mensch mehr hierher verirren würde. Zumindest hoffte ich das.
Als ich am nächsten Morgen aufwachte, hatte meine Laune einen absoluten Tiefpunkt erreicht. Es regnete ohne Unterlass und als es gegen Mittag endlich aufhörte, warteten vor dem Zelt bereits die Mücken auf mich. Zu allem Überfluss hatte ich mein Lager genau auf einem Ameisenhügel aufgeschlagen. Unzählige der Insekten tummelten sich auf meinem Zelt. Als ich den nassen Fetzen mit all dem Getier endlich verstaut hatte, ging es wieder auf die E75. Auf der Straße herrschte immer noch ordentlicher Verkehr und wenig später fing es auch noch an zu regnen. Hier an dieser verfluchten Straße gab es nichts zum Unterstellen. In alle Richtungen erstreckten sich weitläufige Wälder und Sümpfe. Deren geflügelte Bewohner hätten sich sofort auf mich gestürzt, wäre ich so dumm gewesen dort Unterschlupf zu suchen. Spaß machte mir die Sache keinen mehr und ich verfluchte meine Entscheidung diese Route gewählt zu haben bereits massiv.
Doch zum Umkehren war es nun zu spät und so strampelte ich fast siebzig Kilometer ohne Pause durch den Regen. Endlich kam eine kleine Souvenierhütte am Straßenrand in Sicht. Umgehend ging ich darin in Deckung und versuchte mein nasses Gewand zu trocknen so gut es halt ging. Leider war es bereits Abend geworden und kurz darauf schloss der Stand seine Pforten. Nun stand ich also wieder auf der Straße und es blieb mir nichts anderes übrig als meine Fahrt fortzusetzen. Der Verkehr hatte um diese Tageszeit stark abgenommen, aber dennoch hatte ich keine rechte Lust mehr weiter zu radeln. Verzweifelt hielt ich nach einem Lagerplatz Ausschau. Die Landschaft bestand immer noch aus Sümpfen, soweit das Auge reichte. Zeltplätze waren weit und breit keine zu sehen. Irgendwann erreichte ich gottseidank eine kleine Gaststätte. Der nette Besitzer erteilte mir die Erlaubnis, mein Zelt auf der nahe gelegenen Wiese aufzustellen.
Die Bedingungen wurden immer schlechter. Ich kämpfte mich gegen Böen und Regen auf der E75 vorwärts und am späten Nachmittag hatte ich gerade einmal dreißig Kilometer geschafft. Meine körperlich
Verfassung befand sich an einem absoluten Tiefpunkt. Ich hielt es kaum in den verdammten Stiefeln aus. Obwohl sie mir eine ganze Nummer zu groß waren, schmerzten meine Füße darin, als wäre ich
bereits hunderte Kilometer auf Asphalt gewandert. Vor allem das rechte Sprunggelenk fühlte sich an, als würde es ständig von Nägeln durchbohrt. Die Sache machte mir keinen Spaß mehr und ich
musste sämtlich Willenskraft aufbieten um weiterzufahren. Wie eine Maschine radelte ich dahin, während meine Gedanken Purzelbäume schlugen. “Mach dir doch selbst nichts vor.“ dachte ich mir. „Du
bist erledigt. Nur noch ein Schatten deiner selbst. Auch wenn du es schaffst, dich hier noch einmal durch zu quälen. Was nützt es dir letztendlich? Warum willst du dich unbedingt zum Nordkap hoch
kämpfen? Die Straße ist doch eine Katastrophe und du zählst nur mehr die Kilometer, ohne den Moment zu genießen." Das waren die Dinge die mir in diesen Stunden durch den Kopf gingen, aber dennoch
kämpfte ich weiter. Ich wollte unbedingt einmal die norwegische Küste gesehen haben und wenn es nur für ein paar Tage war.
Mir war klar: „Wenn du da in deinem Leben noch einmal hinwillst, ist jetzt die richtige Gelegenheit. Du brauchst nicht darauf zu warten, dass noch eine bessere kommt. Wer weiß in welchem Zustand
du dich nächstes Jahr befindest. In den letzten drei Jahren ist es mit deinem Körper und deiner Psyche rasant bergab gegangen. Also nutze den Moment und warte nicht auf bessere Zeiten die
vielleicht niemals kommen werden.“
Als es Abend wurde, steuerte ich einmal mehr eine Tankstelle an um mich auszuruhen. Vom skandinavischen Kaffee hatte ich mittlerweile mehr als genug. (Der finnische Kaffee schmeckte genau so grauslich wie der schwedische.) Dennoch waren diese Pausen wichtig, um wieder Kräfte sammeln zu können. Im kleinen Laden der Tankstelle, versuchte ich eine Signalweste zu erwerben. Auf Grund der trüben Nebelsuppe konnte man kaum mehr als ein paar hundert Meter sehen. Mit meinem schwarzem Gewand hatte ich bei jedem nahenden Auto Angst, übersehen und von der Straße gefegt zu werden. Doch leider hatte der Laden derartige Westen nicht im Sortiment.
Niedergeschlagen verzog ich mich eine Ecke und fühlte mich wie ein geprügelter Hund. Da schritt plötzlich ein Finne zur Tür herein und steuerte zielstrebig auf meinen Tisch zu. "Hier, nimm die.“
sagte er in gebrochenem Englisch und überreichte mir eine originalverpackte Warnweste. „Super, da haben Sie mir echt den Abend gerettet!" bedankte ich mich überschwänglich. Mein Gönner sah ebenso
zufrieden aus wie ich und winkte lächelnd ab. Geld wollte er ebenfalls keines annehmen. Als ich aufstehen und meine Fahrt fortsetzen wollte, trugen mich abermals meine Beine nicht mehr. Ich
schloss die Augen und versuchte mich zu beruhigen. "Ganz ruhig. Du kennst das, es ist nur vorübergehend. Das geht wieder zurück." Und so war es auch. Den Abend verbrachte ich in Ivalo in einer
Art Karaokebar. Die zwei Mädels gegenüber hatten schon ordentlich einen sitzen und tanzten fast bis zur Besinnungslosigkeit. Fasziniert beobachtete ich das Schauspiel. Es war bereits weit nach
Mitternacht aber draußen war es hell wie eh und je. Die letzten Nächte hatte ich mehr schlecht als recht geschlafen, nicht zuletzt wegen des finnischen Kaffees. Jenseits des Polarkreises schienen
andere Gesetze zu gelten und das Land strahlte eine individuelle Atmosphäre aus.
Ich verbrachte mittlerweile meinen vierten Tag auf der E75 und nun begann der Verkehr endlich nachzulassen. Die Landschaft zwischen Ivalo und Inari entpuppte sich als echte Augenweide. Ich radelte entlang des Inarijärvi, dem sechstgrößtem See Europas. Dieses große Gewässer wirkte allerdings gar nicht seeartig. Durch seine zerklüftete Struktur, mit tausenden kleinen Inseln und Buchten, erinnerte es mich eher an die Schärengärten der Ostsee. Ich radelte munter dahin und sah in meinem Outfit aus Warnweste, Regenhose und Lederstiefeln, wie eine Mischung aus Outdoortourist, Jäger und Penner aus. Widerwillig tauschte ich meine Stiefel trotz der Kälte wieder gegen die Sandalen. Meine Knöchel schmerzten mittlerweile derartig, dass ich keine geschlossenen Schuhe mehr tragen konnte. Lieber würde ich erfrieren, als so kurz vor dem Ziel in die Knie zu gehen.
In Kaamanen verließ ich endlich die verhasste E75 und zweigte auf eine kleinere Straße ab. Diese würde mich nun direkt bis zur norwegischen Grenze führen. Wie ein chinesischer Drache mit unzähligen Buckeln, wand sie sich durch die bewaldeten Hügel Nordfinnlands. Die Steigungen betrugen bis zu 10 % und drosselten mein Tempo ordentlich. Als ich auf Grund der Kälte die Zehen meines linken Fußes nicht mehr spürte, wurde es mir zu viel. Ich beschloss es für heute gut sein zu lassen und stellte auf einem sandigen und halbwegs ebenen Fleckchen mein Zelt auf. Die letzten fünfzig Kilometer bis zur norwegischen Grenze, brachte ich ohne Pause hinter mich. Das Grenzland bestand aus smaragdgrünen geschwungenen Hügeln, mit ausgedehnten Mooren dazwischen. Es herrschten perfekte Bedingungen, ohne starken Wind.
Wären die Schmerzen in meinen Knöcheln nicht gewesen, hätte das Radfahren sicher Spaß gemacht. Im kleinen Grenzkaff Karigasniemi kaufte ich ein letztes Mal ordentlich ein. Anschließend feierte ich die Tatsache, dass ich es tatsächlich bis nach Norwegen geschafft hatte. Ehrfürchtig überquerte ich den Tenojoki, der die Grenze zwischen Finnland und Norwegen bildete.
Die Straße wand sich hinauf in die Hügel und bot einen schönen Ausblick auf den teilweise noch unregulierten Grenzfluss, welcher sich unten im Tal dahinschlängelte. Nach kurzer Fahrt erreichte ich den kleinen Ort Karasjok wo sich das Sameting (Regionalparlament der norwegischen Samen) befindet. In dieser Gemeinde wurde am 1. Januar 1886 mit −51.4 °C die tiefste, jemals in Norwegen gemessene Temperatur registriert. An einem Geldautomaten behob ich ein wenig Bargeld, was ein reiner Akt der Neugier war. In Skandinavien konnte man überall mit Kreditkarte zahlen, manchmal blieb einem auch gar nichts anderes übrig. Allerdings hatte ich noch nie norwegische Kronen gesehen und wollte zumindest einmal in meinem Leben welche in der Hand gehabt haben. Im lokalen Coop Supermarkt studierte ich ein wenig die Preise der Lebensmittel. „Das Leben in Norwegen scheint wirklich teuer zu sein.“ dachte ich, als ich den Supermarkt wieder verließ.
Gottseidank war mir das im Vorfeld schon öfter mitgeteilt worden und so hatte ich an der Grenze in Finnland noch einmal ordentlich eingekauft. Als ich das Ortsgebiet von Karasjok schließlich verließ, ging plötzlich gar nichts mehr. Meine rechte Ferse schmerzte so stark, dass ich unmittelbar in den nahe gelegenen Hügeln mein Zelt aufstellte. Kurz darauf begann es zu regnen und so war ich über meine Entscheidung den Tag vorzeitig beendet zu haben, eigentlich ganz froh. Im Zelt machte ich mir einen kalten Wickel mit Rømmekolle, einem norwegischen Milchprodukt, das entfernt an österreichischen Topfen erinnerte. Immerhin waren es nur mehr lumpige 250 Kilometer bis ans Nordkap und mir wollte einfach nicht eingehen, warum es kurz vor dem Ende noch einmal so ein Drama werden musste.
Das Ziel so kurz vor Augen, beschloss ich nichts mehr zu riskieren und die Länge der Etappen drastisch zu verkürzen. So hoffte ich den Schmerzanfall halbwegs aussitzen zu können ohne mich zu überfordern. Aber auch ohne diesen Vorsatz hätte ich während dieser Tage wahrscheinlich nicht viel geschafft, da die Landschaft traumhaft schön und der Gegenwind gnadenlos war. Die sanften Hügel der Finnmark gingen nun in echte Berge über, an deren Gipfeln weiße Schneefelder schimmerten. Der Untergrund wurde zunehmend steiniger und auch die Mücken waren weniger zahlreich vertreten. In den Flusstälern vor Lakselv gediehen sogar richtige Baume, ansonsten wurde die Vegetation hauptsächlich von kleinen und krüppeligen Birken geprägt.
Der Campingplatz in Lakselv entpuppte sich als einer der besten auf der gesamten Tour. Für etwa 11 Euro bekam ich zusätzlich zur Übernachtung gratis Internet und konnte Waschmaschine und Trockner kostenlos nutzen. In Rovaniemi hatte ich für die gleiche Leistung 35 Euro, also mehr als das dreifache gezahlt! Draußen im Freien wehte ein derart eisiger Nordwind, dass es kaum auszuhalten war. Also kauerte auch mich vor den Computer und studierte bis spät in die Nacht das Land und die Gegend, in der ich mich nun befand. Als ich schließlich schlafen ging war es fast Mitternacht und die Sonne versank in einer Symphonie aus Rot und Gold im Polarmeer.
Der nächste Tag war mein 24. Geburtstag, den ich dieses Jahr in Norwegen feierte. Schmunzelnd dachte ich zurück an meine letzten drei Geburtstage die ich allesamt auf Reisen verbracht hatte. Ich musste an meinen 21. Geburtstag mit Patrick in Gland am Genfersee denken. Damals hätte er sich mit den paar Fruchtsäften die er mir ausgegeben hatte, fast an den Rand des finanziellen Ruins getrieben. Ich radelte nun am Porsangerfjord entlang, direkt Richtung Nordkap. Beim Anblick der norwegischen Landschaft und beim Gedanken an die tollen Touren die man in dem Land unternehmen konnte, kamen mir beinahe die Tränen. Da waren Schweden und Finnland ja ein regelrechter Witz dagegen. Der Fjord, zu Beginn noch relativ schmal, verbreiterte sich zusehends. Ich radelte mit offenem Mund durch die Landschaft und kam aus dem Staunen kaum mehr heraus. Wären nicht die furchtbaren Schmerzen in meinen Füßen gewesen, hätte ich den Moment für die Ewigkeit festhalten wollen.
In einem kleinen Dorf namens Kistrand wollte ich noch einmal eine Pause einlegen. Doch außer ein paar trostlosen Holzhäusern war dort nichts zu sehen und so prügelte ich mich weiter. Gottseidank machte die Straße wenig später einen Schlenker nach Westen und bis Olderfjord hatte ich den Wind im Rücken. In der strahlenden Nachmittagssonne stürmte unvermittelt eine Horde Rentiere über die Straße, es mussten mindestens vierzig Tiere gewesen sein. Obwohl die Sonne aus dem azurblauem Himmel leuchtete, war es bitterkalt. Ich kehrte am Campingplatz in Olderfjord ein, und nistete mich für den Rest des Tages im nahe gelegenen Restaurant ein. Dort verbrachte ich auch den nächsten Tag. Der Kellner, ein netter Finne, versorgte mich mit allem was ich brauchte. Er ließ mich soviel Kaffee trinken wie ich nur konnte und schenkte mir sogar noch ein gratis Frühstück für den nächsten Tag.
In Olderfjord gab es einen kleinen Supermarkt, ein Restaurant und einen Souvenierladen, welcher gleichzeitig auch als Rezeption für den dahinter liegenden Campingplatz herhalten musste. In regelmäßigen Abständen hielten Busse in dem kleinen Ort und spuckten Horden von Touristen aus. Diese infiltrierten umgehenden den Souvenierladen und kauften alles was nicht niet und nagelfest war. Über dem Verkaufstresen hing ein präpariertes Eisbärenfell, das soviel kostete wie ein Kleinwagen. Ich richtete mir mein Quartier in einer windstillen Ecke auf dem Campingplatz ein und verkroch mich umgehend in meinem Zelt. Auch am darauffolgenden Tag verließ ich es nur um im Restaurant Kaffee zu trinken und um ein paar Vorräte im Dorfladen einzukaufen.
Als ich am Morgen nach meinem Pausentag wieder aufbrach hatte ich gute Bedingungen. Von der Sonne war nichts zu sehen, aber dafür war es halbwegs windstill. Der Porsangerfjord wurde in dichten Nebel gehüllt und ich radelte im Schutz seiner steinigen Flanke, an kleinen Dörfern und Siedlungen vorbei. Die Straße wand sich die Klippen entlang und plötzlich tauchte unvermittelt der erste Tunnel vor mir auf. Dabei handelte es sich um den Skarvbergtunnel, eine fast drei Kilometer lange, finstere und feuchte Kaverne. Als ich in seinem dunklen Schlund verschwand, umhüllte mich feuchte Kälte. Hier kamen nun das erste Mal jene Handschuhe zum Einsatz, die ich mir vor zwei Monaten im dänischen Stege für Island gekauft hatte. Nun befand ich mich kurz vor dem Nordkap, von dem ich damals noch nicht einmal gewusst hatte, wo es genau liegt.
Die E69 welche zur Insel Magerøya und dem auf ihr liegenden Nordkap führte, war kaum befahren. Auch gab es keine Einkehrmöglichkeiten und da ich keine Lust hatte mich irgendwo auf die Felsen zu hocken, radelte ich siebzig Kilometer durch, bis ich vor dem Portal des Nordkaptunnels stand. Im Dunst des Meeres ragte die Insel Magerøya wie eine schwarze Festung aus dem Wasser. Der eigentliche Plan wäre gewesen, den Nordkaptunnel früh morgens zu durchqueren, um nicht mit dem Verkehr in Berührung zu kommen. Doch da ich nun schon mal hier war, wollte ich nicht länger warten und stürzte mich in das dunkle Loch. Jener Tunnel war fast sieben Kilometer lang und verlief etwa 200 Meter unter dem Meeresspiegel. Dabei verfügte er auf beiden Seiten über ein Gefälle von etwa 9 %.
Ich krallte mich in die Bremsen, während ich den dunklen Schlund hinuntersauste. Die Kälte paralysierte mich regelrecht und als ich endlich am untersten Punkt angekommen war, fühlte ich mich wie ein gefriergetrocknetes Stück Fisch. Der Tunnel verlief nun etwa einen Kilometer weitgehend eben. Auf den nächsten drei Kilometern ging es auch schon wieder höllisch bergauf. Die Autos und Motorräder die an mir vorbeisausten, machten einen Höllenlärm. Ich glaubte jedes Mal ein Güterzug sei hinter mir her. Einmal wurde es richtig gefährlich, als plötzlich ein Fahrzeug von vorne zum Überholen ansetzte. Gerade noch rechtzeitig erkannte ich die Gefahr und brachte mich auf dem provisorischen Gehweg in Sicherheit. Trotzdem verfehlte mich das Auto nur um Zentimeter. Ich dachte nicht lange darüber nach, denn mehr als drei Lampen und eine Warnweste konnte ich mir nicht umhängen. Wer mich damit nicht sah, hatte wohl ohnehin andere Probleme. Ich trat also in die Pedale und schaute, dass ich aus dem Tunnel herauskam. Wenig später konnte ich auch schon das Licht des Portals sehen und meine Erleichterung war groß, als ich endlich auf der Insel Magerøya ankam.
Schwarze, zerklüftete Berge ragten vor mir in den Himmel. Die Straße wand sich zuerst ein wenig an deren Flanken entlang und verschwand dann erneut für vier Kilometer in einem Berg. Der Honningsvagtunnel erwies sich jedoch als harmlos, da er nicht sehr steil war und bessere Beleuchtung sowie mehr Platz auf den Seiten bot. Dahinter lag die kleine Stadt Honningsvag, die sich mit ihren vielen bunten kleinen Häusern um die schwarze Bergflanke schmiegte. Auch hier war es erstaunlich ruhig und die Straßen wenig befahren. Ich genehmigte mir noch einen Kaffee an der Tankstelle und steuerte anschließend den dahinter liegenden Campingplatz an.
Dort verbrachte ich einen netten Abend mit zwei Schweizern. Die jungen Radfahrer erzählten mir, dass für sie in Norwegen alles etwa gleich viel kostete wie zuhause. „Natürlich ist alles teuer aber du musst bedenken, ein ganz normaler Koch verdient bei uns in der Schweiz schon einmal 4000 Euro im Monat. Wer da noch jammert, dem ist wirklich nicht mehr zu helfen. Seit dem der Euro nicht mehr an den Franken gekoppelt ist, hat sich alles noch verschlimmert. Mittlerweile ist der Kurs Franken - Euro schon 1:1.“ Mich berührte das alles wenig. Ich hatte die Schweiz schon vor drei Jahren als unbeschreiblich teuer erlebt und keine Ambitionen sie noch einmal zu besuchen.
Am nächsten Morgen war ich wirklich froh diesen Campingplatz noch erreicht zu haben, denn das Wetter weckte mich mit Wind und heftigen Regenschauern. So kurz vor dem Ziel hatte ich jedoch keinen Grund mehr mich noch zu hetzen. Also blieb ich erst einmal im Zelt liegen und versuchte den Regen auszusitzen. Leider war dieser Versuch nur von mäßigem Erfolg gekrönt. Als der Regen endlich nachließ war es bereits 21 Uhr abends und so beschloss ich, die letzte Etappe auf den nächsten Tag zu verschieben. Widerwillig radelte ich noch einmal zurück nach Honningsvag um mich dort mit Vorräten einzudecken. Der Wind heulte mir um die Ohren und ich war heilfroh, als ich mit den Taschen voller Vorräten (und um ein kleines Vermögen ärmer) wieder zurück am Campingplatz war.
Als ich am nächsten Morgen vom Zähneputzen kam, fing mich eine Holländerin auf dem Weg zu meinem Zelt ab. „Du wirst es nicht glauben, aber gestern als du geschlafen hast, ist eine ganze Herde Rentiere über den Platz marschiert und hat sich genau um dein Zelt versammelt!" erzählte sie begeistert und fuchtelte mir mit ihrem Smartphone vor der Nase herum. Ich grinste, als ich die Fotos sah. “Das wundert mich gar nicht. Ich bin jetzt schon lange in Skandinavien. Wahrscheinlich rieche ich selbst schon nach Flechten und Moos.“ Die Holländerin lachte und schüttelte sich beim Anblick meiner nackten Füße.
Es war schon ein verdammt komisches Gefühl, als ich wenig später auf mein unbepacktes Rad stieg, um die letzten 25 Kilometer in Angriff zu nehmen. Die Schweizer mit denen ich kürzlich gesprochen hatte, waren die letzten Kilometer ebenfalls ohne Gepäck gefahren. Trotzdem hatten sie mich gewarnt dass es hart werden würde. "Schwachsinn.“ Hatte ich mir gedacht. Was soll an läppischen 25 Kilometern schon so hart sein?" Eine schmale Straße wand sich zwischen den schwarzen Bergen empor, die nur spärlich von kränklich aussehenden gelben Gras und verschiedenen Flechten bewachsen wurden. Der Wind heulte mir um die Ohren. Kein Wunder, hatte der Wetterbericht doch Böen von bis zu 60 km/h angekündigt. Schließlich erwies sich der Weg bis auf das finale Hochplateau doch als kräftezehrender als gedacht.
Die Steigungen wollten einfach kein Ende nehmen und ich nutzte das langsame Tempo um die zerklüftete Landschaft zu bewundern, die sich auf beiden Seiten ausdehnte. Unten im Tal leuchteten Seen und kleine Buchten, die sich marineblau im Kontrast zu den kargen Felsen abhoben. Nach etwa zwei Stunden erklomm ich eine letzte Steigung und da konnte ich auch schon die Nordkaphalle sehen. Für mich war es wie die Ruhmeshalle am Ende der Siegesstraße. Ich schlängelte mich zwischen den wartenden Autos hindurch und wenige Augenblicke später stand ich vor der metallenen Kugel. Gemeinsam mit Andrew, der von Tarifa mit dem Rad gekommen war, feierte ich meine Ankunft. Wir schlürften einen Kaffee nach dem anderen, setzten uns in die Nordkaphalle und fühlten uns wie die Könige.
Wenig später kam Veronika, eine Radfahrerin in meinem Alter, mit ihrem Vater an. Die beiden stammten aus dem Bayrischen Tittmoning, das direkt an der Grenze zu meiner Heimat Oberösterreich lag. Es wurde viel gelacht an diesem Nachmittag. Plötzlich stand auch meine holländische Campingplatznachbarin vor mir. "Oh, it's Steve the Reindeer man! So you made it up!", jubelte sie begeistert. "Du bist ja schon sowas wie eine lokale Berühmtheit hier auf der Insel.“ schmunzelte Andrew und nippte an seiner Kaffeetasse. Es wurde ein ziemlich vergnüglicher Tag. Wir saßen draußen in der Sonne, Veronika kochte Nudeln und Andrew erzählte von seinem Turbokocher der sich kaum regulieren ließ. So musste man aufpassen, dass einem das Essen nicht plötzlich um die Ohren flog.
Obwohl meine gesamte Ausrüstung unten am Campingplatz lag, beschloss ich bis zur Mitternachtssonne zu bleiben. Die letzten Stunden wurden dann bereits ziemlich zäh. Wir setzten uns ins Kino im Keller der Nordkaphalle. Dort war ein minutenlanger sehr schöner Film über das Nordkap zu sehen. „Jetzt reicht es aber. Noch einmal ertrage ich es nicht.“ murmelte ich, als bereits zum vierten Mal der Abspann über den Bildschirm flimmerte. Es war bereits nach 23 Uhr und draußen auf dem Nordkaplateau wurden auch schon eifrig Vorkehrungen getroffen. Stative wurden aufgebaut und in Position gebracht, Kameras auf den Geländern montiert. So mancher Asiate schleppte sogar eine Stehleiter umher, um eine bessere Position einnehmen zu können.
Leider hatte sich die Sonne hinter den Wolken verborgen, nur ein schwaches orangenes Glimmen ließ erahnen, was sich dahinter verbarg. Es war bereits wenige Minuten vor Mitternacht. So mancher Tourist suchte missmutig sein Zeug zusammen und schlenderte zurück zu seinem Auto. Doch genau zur Stunde Null durchbrach die Sonne plötzlich die Wolkendecke und hüllte die Menge in ein goldenes Licht. Plötzlich stürmten hunderte Menschen aus der Halle zurück ins Freie und betätigten ihre Fotoapparate in einem Rausch wilder Ekstase. Da stand ich nun, im Schein der Mitternachtssonne. Ich hatte das Ziel meiner Reise erreicht.